Finnland hat den Kalten Krieg als souveräner Staat überlebt, weil es mit der Sowjetunion ein ungeschriebenes Arrangement einging, das der einstigen autonomen russischen Provinz militärische Neutralität auferlegte. Der gesellschaftlichen Ausrichtung Finnlands nach Westen und dem späteren Eintritt in die Europäische Union tat dies keinen Abbruch. Ähnlich ist der Fall Österreich gelagert. Österreich erhielt 1955 nach zehn Jahren Besetzung durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs seine Freiheit zurück, indem es sich zur immerwährenden Neutralität nach Schweizer Muster verpflichtete.
Kissingers vier Punkte
Wie Finnland ist auch Österreich der EU beigetreten, verhält sich prowestlich und besitzt seine eigenen Streitkräfte. Aber beide Staaten haben sich nicht von der Nato aufsaugen lassen, wie übrigens auch Schweden.
Wäre ein solches Modell auch für die Ukraine anwendbar? Henry Kissinger schlägt einen Vier-Punkte-Plan vor: 1. Die Ukraine muss ihr Wirtschaftssystem selbst wählen und sich der EU anschliessen können. 2. Die Ukraine darf nicht der Nato beitreten. 3. Die Ukraine muss eine Neutralität nach dem Vorbild Finnlands verfolgen. 4. Die Krim soll nicht abgetrennt werden, aber die Regierung in Kiew müsste ihr mehr Autonomie zugestehen und den Fortbestand des russischen Flottenstützpunkts in Sewastopol garantieren.
Védrines fünf Punkte
Hubert Védrine, ein Sozialist, enger Vertrauter des Präsidenten François Mitterand und Aussenminister seines Nachfolgers Jacques Chirac, schlägt fünf Punkte vor: 1. Die territoriale Integrität der Ukraine bleibt unangetastet, aber der Staat wird eine Föderation, in der die Krim eine fast komplette Autonomie geniesst und die östlichen russischsprachigen Gebiete weitgehende Selbstverwaltung erhalten. 2. In dieser Föderation werden alle ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten geschützt. 3. Die Angliederung russischsprachiger Regionen an Russland wird ausgeschlossen. Ein Assoziierungsvertrag mit der EU muss ein Zollabkommen mit Russland zulassen.
Nach Ansicht von Védrine riskiert der Westen mit einer solchen Vereinbarung wenig, weil Russland wirtschaftlich kaum mit der Anziehungskraft der EU wetteifern könne. 4. Eine Rückkehr zur Vereinbarung vom 21. Februar zwischen den Aussenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens mit der damaligen Regierung und der Opposition der Ukraine, die ein Übergangsregime und Neuwahlen vorsah. Dieser Vertrag wurde durch den Druck der Strasse nach zwei Tagen zur Makulatur. 5. Die neue ukrainische Föderation wird „im besten Sinne des Wortes finnlandisiert“. Der Westen und Russland verpflichten sich, die Ukraine nicht auf ihre Seite zu ziehen.
Kievs Verzicht auf Atomwaffen und Moskaus Versprechen
In den diplomatischen Kreisen ist eine lebhafte Diskussion über diese Vorschläge ausgebrochen. Die einen weisen auf die Unterschiede zwischen der Ukraine und Kleinstaaten wie Finnland oder Österreich hin. Mit fast 50 Millionen Einwohnern und der doppelten Fläche Deutschlands sei die Ukraine eine Regionalmacht, die man nicht neutralisieren oder zu einem Pufferstaat machen könne. Aus Kissingers Sicht sollte die Ukraine hingegen eine „Brücke“ zwischen Ost und West bilden. Die Ursache der jetzigen Krise liege im Starrsinn der politischen Führer, ihren Willen dem gesamten Land aufzuzwingen, ohne Rücksicht auf die andere Hälfte der Bürger.
Die Ukraine hat 1994 gemeinsam mit Kasachstan und Weissrussland auf die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen verzichtet. Die nuklearen Sprengsätze wurden zur Verschrottung nach Russland transportiert. Als Gegenleistung erhielt die Ukraine Sicherheitszusagen Russlands, der USA und Grossbritannien, die im sogenannten Budapester Memorandum festgeschrieben sind. Jetzt beruft sich die Regierung in Kiew auf dieses Dokument, das die Achtung der Staatsgrenzen garantiert. Eine Annexion der Krim durch Russland wäre ein klarer Bruch des Abkommens.
Eine finnische Stimme
Was meinen die Finnen zur Anwendung des oft diffamierten oder missverstandenen Begriffs „Finnlandisierung“ im Falle der Ukraine? In der Dienstagnummer der „Financial Times“ meldete sich ein finnischer Ex-Botschafter in Washington, Jaako Iloniemi, zu Wort. „Die Erfahrung Finnlands ist sehr schwer zu kopieren“, schreibt Iloniemi. „Der Grund, warum wir nicht der Nato beigetreten sind, ist, dass die meisten Finnen dafür keine Notwendigkeit sahen. Das bedeutet aber keineswegs eine Äquidistanz zu Brüssel und Moskau.“