Das europäische Bankensystem und mehrere EU-Staaten befinden sich nach wie vor in einer bedenklich schwachen finanziellen Verfassung. Die jüngsten Schätzungen der European Banking Authority (EBA) zeigen alleine für die 42 grössten EU-Kreditinstitute per Ende 2012 einen Rekapitalisierungsbedarf von USD 95 Mrd. Die Stresstests im Vorfeld der Übernahme der Bankenaufsicht durch die EZB dürften weitere Finanzlücken im Hinblick auf die Eigenmittelanforderungen 2019 von Basel III aufdecken. Die Werthaltigkeit und Stressresistenz vieler Bankaktiven wird in einigen Ländern noch zu optimistisch bewertet. Vielerorts besteht erheblicher Abschreibungsbedarf für Altlasten. Auch die Qualität der Eigenmittel lässt vielerorts noch Fragen offen. Die einzelnen Volkswirtschaften und ihre Banken sind zudem stark miteinander verbandelt, weil einige Regierungen mit Staatsgeldern ihre nationalen Banken stützten, diese Banken aber ihrerseits in grossem Stil Staatsanleihen ihrer Sitzstaaten in ihren Büchern halten, die als Liquiditätsreserve dienen und keine Eigenmittelunterlegung erfordern. Die Schuldnerbonität der Sitzstaaten bestimmt und begrenzt meistens auch das Rating der Banken. Trotz einheitlichem Währungsraum herrschen deshalb in den einzelnen Staaten unterschiedliche Zinsniveaus. Banken und Unternehmen aus Krisenstaaten bezahlen höhere Zinsen als vergleichbare Schuldner in finanzstarken EU-Staaten. Diese Fragmentierung der Finanzmärkte führt dazu, dass die Krisenstaaten bei der Bewältigung ihrer Probleme noch zusätzliche Hürden überwinden müssen. Mit einer Flucht nach vorne versucht nun die Politik einmal mehr, Probleme zu Vergemeinschaften. Gemeint ist eine Eurozonen-weite Integration der Kredit-, Aktien- und Anleihensmärkte und eine Fiskalunion.
Eine mit September 2013 datierte Studie des Brüsseler Think Tanks Bruegel, der von zahlreichen EU-Regierungen, Notenbanken und Grossfirmen gesponsert wird, zuhanden des Ecofin-Meetings vom 14. September 2013 (Ecofin = Formation des Rats der Europäischen Union in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Mitgliedsstaaten), aber auch die jüngsten IWF-Empfehlungen (IMF: Towards a Fiscal Union for the Euro Area) an die EU, zielen darauf ab, die finanziellen Integration in Europa zu forcieren. Dabei bezieht sich die Bruegel-Studie auf den Finanzsektor, das IWF-Diskussionspapier auf die Staatshaushalte. Die Bruegel-Experten kommen dabei zu überraschenden Schlussfolgerungen. Statt Banken wie anderenorts gefordert nach In- und Auslandgeschäften aufzuspalten, zu renationalisieren und auf lokale Aktivitäten einzuschränken, befürwortet Bruegel das Gegenteil, nämlich grenzüberschreitende Fusionen zu erleichtern und zu forcieren. Grund dafür sei die Tatsache, dass die Integration des EU-Bankensektors bisher nur im Grossgeschäft (Interbankengeschäft, teils Investmentbanking und Asset Management) erfolgt sei, während das Retailgeschäft (Spar- und Kreditgeschäft) vorwiegend innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen blieb. Es sei beispielsweise unüblich, dass eine Bank von Deutschland aus in Frankreich Hypotheken vergäbe. Ziel dieser forcierten Integration sei eine bessere geographische Diversifikation der Risiken und der Mittelbeschaffung. Damit könnten die Rückschläge in einzelnen Märkten reduziert und die starke Abhängigkeit einzelner Banken von ihren Sitzländern abgebaut wer-den.
Die Reform-Agenda von Bruegel umfasst 3 Massnahmenpakete.
1. Im Nachgang zu einer strengen Überprüfung der Werthaltigkeit der Aktiven in den Bankbilanzen und der Qualität des Eigenkapitals durch die neugeschaffene Bankenunion ("Single Supervisory Mechanism" / SSM) müssen die unterkapitalisierten Banken entweder aus privaten Quellen nachfinanziert oder liquidiert werden. Staatshilfen sollen die Ausnahme sein und dürfen nicht zu einer Rettung der Aktionäre und des Managements führen.
2. Systemrelevante unrettbare Banken müssen restrukturiert und abgewickelt werden, wobei ein EU-weiter Single Resolution Mechanismus (SRM) mit ei-ner unabhängigen Resolution Behörde (SRA) auch einen Verkauf notleidender Banken ins Ausland oder den Zusammenschluss mit ausländischen Instituten erleichtern soll.
3. Die EU bzw. die Eurozone soll einen besser funktionierenden, liquiden und grenzüberschreitenden Aktien- und Corporate Bond-Markt fördern, um natio-nale Schocks abzufedern. Bruegel befürwortet somit einen integrierten Ban-ken-, Aktien- und Anleihenmarkt. Der Krebsgang der Integration im Finanzsektor seit Ausbruch der Finanzkrise 2007 müsse gestoppt und stattdessen wieder vorangetrieben werden. Dies setzt allerdings eine Harmonisierung der Corporate Governance, einheitliche Transparenzvorschriften für Emittenten und ein einheitliches Konkurs- und Steuerrecht voraus. Damit könnte die im Vergleich zur USA wesentlich stärkere Abhängigkeit der Unternehmen von den Banken reduziert werden.
Anmerkung
Die Bilanzsumme der europäischen Banken im Verhältnis zum BIP erreichte Ende 2012 in der EU rund 350% des BIP (Bilanzsumme Ende 2012: EUR 45'500 Mrd. / BIP EUR 12'894 Mrd.), während dieses Verhältnis in den USA nur 96% beträgt (Bilanzsumme 2012: USD 14'450 Mrd. / BIP USD 14'991 Mrd.). Die Ausleihungen der EU-Banken belaufen sich auf EUR 24'300 Mrd. (wovon EUR 5'300 Mrd. an Unternehmen und EUR 7'600 Mrd. an Haushalte). In den USA machen die Kredite USD 7'700 Mrd. aus, wovon USD 1'500 Mrd. an die Unternehmen gewährt wurden und USD 4'700 Mrd. an die Haushalte. Das Verhältnis Ausleihungen zu Kundeneinlagen beträgt in der EU 123%, in den USA 71%. Die Eigenmittel der US-Banken beliefen sich auf USD 1'300 Mrd., jene der EU-Banken auf EUR 3'300 Mrd. Alleine diese wenigen Schlüsselzahlen zeigen einen grossen Handlungsbedarf für den Umbau und eine Nachfinanzierung des europäischen Bankensystems.
Der IWF stellt fest, dass der Euro zum Übertragungsriemen für die Krisen in der Eu-rozone geworden ist. Die ungenügende Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer kann nicht mehr über Abwertungen von Landeswährungen korrigiert werden. Um wieder Anschluss an den Rest der EU zu finden, muss eine innere Abwertung erfolgen, d.h. Löhne und Preise müssen gesenkt werden, was Deflation bedeutet. Werden nicht die Preise reduziert, dann passt sich die Menge an den Markt an, d.h. es kommt zu hoher Arbeitslosigkeit, wie wir sie derzeit in vielen Krisenländern erleben. Die Senkung der Lohnstückkosten in einigen Ländern ist nicht zwangsweise Ausdruck einer Effizienzsteigerung. Es wurden lediglich Jobs von Unqualifizierten mit geringer Wertschöpfung eliminiert. Dadurch fällt die pro Kopf-Wertschöpfung der verbliebenen Werktätigen höher aus und es entsteht der falsche Eindruck, dass einzelne Länder grosser Produktivitätsfortschritte erzielt hätten. Der IWF empfiehlt als Heilmittel gegen die Eurozonen-Krise ebenfalls eine "Flucht nach vorne", aber er fordert eine vertiefte Fiskalintegration. Als Minimalelemente schlägt der IWF vier Massnahmen vor:
1. Bessere Überwachung der Staatsfinanzen und Anreize für die Schaffung von Finanzpuffern zur Krisenbewältigung.
2. Temporäre Transferzahlungen oder gemeinsame Hilfsfonds, die über ein zentrale EU-Budget laufen sollen. Gemeint ist insbesondere eine gemeinsame EU-weite Arbeitslosenversicherung.
3. Glaubwürdige pan-europäischer Auffangfonds für notleidende EU-Banken, um die unheilvolle Verflechtung mit den Sitzstaaten zu unterbinden. Gemeint sind eine EU-weite Bankeinlagenversicherung und ein Resolutionfonds, mit dem die Abwicklung grosser, systemrelevanter EU-Banken finanziell bewältigt werden soll. Diese Geldtöpfe wären vom Finanzsektor zu finanzieren. Temporär notwendige staatliche Einschüsse für Krisenfälle müssten später von der Finanzbranche zurückerstattet werden. Gesunde Banken werden durch solche Nachschüsse geschädigt.
4. Gemeinsame EU-Finanzierung (EU-Bonds), um Risiken besser zu verteilen und die Kapitalbewegungen zwischen den Staatsanleihen verschiedener Länder einzudämmen. Gleichzeitig sollen damit neue liquide, sichere Anlageinstrumente geschaffen werden.
Als Folge dieser forcierten Integration müssten die einzelnen Länder Souveränitäten und ihre Budgethoheit an die EU abtreten. Die finanziell stärkeren Länder würden via Euro-Bonds höhere, die unsolideren Länder tiefere Zinsen bezahlen. Mit der Neuausrichtung der EU-Fiskalpolitik würden jedoch die Altlasten nicht bewältigt, sie dient lediglich zur Abfederung künftiger Krisen. Als Kapitalanleger hat man damit zu rechnen, dass die alte Idee, die bisherigen Staatsschulden aufzuteilen, wieder aufgegriffen wird. Staatsschulden innerhalb der 60%-Verschuldungsgrenze gemäss Maastrichter Abkommen würden in Euro-Bonds mit gemeinsamer Haftung aller Euroländer umgewandelt. Der Rest wäre weiterhin den nationalen Bonitätseinstufungen ausgesetzt und würde gegenüber den Euro-Bond-Zinsen wohl höhere Verzinsungen aufweisen. Oder die Überschussschulden würden in einen gemeinsamen Topf geworfen und die Länder müssten sich verpflichten, zuerst diese zu bedienen und zu amortisieren.
Noch steckt die Vergemeinschaftung der Staatsschulden und der Bankenprobleme erst in den Anfängen, aber für die Anleger würden solche Integrationsschritte zu einer massiven Veränderung des Anlageuniversums führen. Der Aufbau von zentralen Hilfsfonds (gemeinsame Arbeitslosenversicherung und anderer Transferzahlungen) werden gemäss IWF Beträge von 1.5% bis 2.5% des BIP bzw. EUR 250 Mrd. bis EUR 400 Mrd. erfordern. Solche Beträge vergleichen sich mit dem derzeitigen EU-Jahresbudget von rund EUR 130 Mrd. (EUR 908 Mrd. über 7 Jahre 2014-2020). Bezogen auf die nationalen Staats- und Sozialversicherungshaushalte bedeutet dies wiederum 3% bis 5% zusätzlicher Aufwand. Woher diese Gelder, vor allem aus den Krisenstaaten, die bei risikogerechten Tarifen überdurchschnittlich viel einbezahlen müssten, herkommen sollen, verschweigt der IWF. Der Aufbau des Banken-Auffangfonds und der neuen pan-europäischen Einlagenversicherung soll hingegen vom Finanzsektor selbst bezahlt werden. Expertenschätzungen zufolge sollen für die Einlagenversicherung 0.4% der Kundeneinlagen (EUR 22'400 Mrd. x 0.4% = EUR 89 Mrd.), für den Resolutionfonds 0.5% des Kreditvolumens (EUR 24'300 Mrd. x 0.5% = EUR 122 Mrd.) notwendig sein. Woher die vielerorts ohnehin unterkapitalisierten Banken diese Beträge hernehmen sollen, bleibt ebenfalls unklar.
Bei diesen beiden Perspektivstudien mit Empfehlungen an die Regierungen handelt es sich zwar nur um Lösungsvorschläge zur Bewältigung der Krise in Europa. Die finanzielle und personelle Verquickung der Auftraggeber mit den Experten lässt jedoch den Verdacht von terrainebnenden Gefälligkeitsgutachten für künftiges Agieren aufkommen. Was bedeuten mehr Zentralismus und Umverteilung für die Anleger?
Fazit
Der Zeitbedarf für solch umfassende Projekte geht weit über jenen 2-3 Jahre-Horizont hinausgeht, der für die Bewältigung der Euro-Finanzkrise zur Verfügung steht. Dennoch erscheint es zwingend, noch vor der Publikation der Stresstest-Resultate im Jahre 2014 durch den SSM einen Auffang- bzw. Resolutionfonds allenfalls mit Staatsgarantien für Bankabwicklungen einzurichten. Die deutsche Regierung hat sich zwar vor den Wahlen gegen einen solchen Geldtopf ausgesprochen. Aber noch bevor die Koalition steht, signalisierte Kanzlerin Merkel anlässlich des EU-Gipfeltreffens vom 24./25-Oktober 2013 der Staats- und Regierungschefs mit angeblich neuen Vorschlägen, Kompromissbereitschaft. Wie bereits mehrmals erlebt, versucht die wiedergewählte Kanzlerin nun ihr Nachgeben mit der Ankündigung von Bedingungen zu kaschieren. Erstens soll die Euro-Zone nur für 130 ihrer etwa 6000 Banken die gemeinsame Verantwortung tragen, darunter bis zu 30 deutsche Geldinstitute. Zweitens müssten Eigentümer und Gläu-biger im Fall einer Notlage zunächst gestaffelt selbst haften. Drittens müssen nationale Parlamente zustimmen, ehe staatliche Hilfen fliessen. Der neue Vorschlag würde dem Bundestag ein Mitspracherecht bei der Abwicklung einräumen und hohe Hürden für eine staatliche Beteiligung aufbauen. Zudem wären die deutschen Sparkassen und Volksbanken nicht betroffen. Unklar bleibt aber nach wie vor, wer die Abwicklung steuern und allenfalls vorfinanzieren soll, bevor in einigen Jahren ein von der Finanzindustrie gespeister Fonds dies übernehmen kann. Die Annahme, dass die nationalen Parlamente nach einer plötzlich auftretenden Insolvenz zusammentreten und die Finanzierung der Abwick-lung beschliessen würden, ist illusorisch, denn es stellt sich die Frage, was passiert, wenn sich einzelne Regierungen weigern oder das nötige Geld dazu nicht aufbringen können. Bewilligt das deutsche Parlament die Speisung des Abwicklungsfonds, dann hat die Kanzlerin ihre Verantwortung geschickt abgeschoben, sich aber der EU-Zentrale gebeugt. Deshalb verwundert es nicht, dass EU-Kommissionspräsident Barroso die Pläne der Bundeskanzlerin, der EU-Kommission mehr Befugnisse bei der Überwachung der Finanz- und Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedsländer einzuräumen, lobt.
Die übrigen Staaten werden wohl den Druck auf Deutschland erhöhen, auch in Bezug auf eine pan-europäische Einlagenversicherung. Die Abwicklung internationaler Finanzinstitute erfordert ein harmonisiertes Konkursrecht. Die heutige Regulierung, mit der lokale Bankeinlagen durch nationale Einlagenversicherungen geschützt werden, führt zu einer Privilegierung der Sitzlandgläubiger. Dies erschwert eine einheitliche Abwicklung von global tätigen Finanzinstituten durch einen einzigen Konkursverwalter. Aus Zeitmangel dürfte ein harmonisiertes Banken-Abwicklungsrecht ausserhalb des ordentlichen Konkursrechtes der einzelnen Länder angestrebt werden. Da auch eine Fiskalunion kaum innert nützlicher Frist umgesetzt werden kann, werden Euro-Bonds vorerst über die Ausgabe von Anleihen durch den ESMF oder andere EU-Institutionen wie die EIB verwirklicht werden. Die Aussiedlung von Staatsschulden auf EU-Kollektive, die die einzelnen Staatsrechnungen nicht belasten, erinnert an das Vorgehen grosser Finanzinstitute vor der Finanzkrise. Auch sie nutzen diesen Buchhaltungstrick, um ihre Bilanzen zu schonen, indem sie Geschäfte und deren Fremdfinanzierung in separate Gesellschaften verschoben. Die Rating-Agenturen werden hoffentlich diese EU-Schuldner kritischeren Prüfungen unterziehen und den Mut haben, wie im Falle des Euro-Rettungsschirms, die Bonität abzustufen. Dass Deutschland auf die Budgethoheit ihres Parlaments verzichten wird, ist zum heutigen Zeitpunkt nicht denkbar. Die Bestrebungen der Brüsseler Beamtenschaft und des EU-Parlaments, einen grösseren Teil des Finanzkuchen unter ihre Verteilungshoheit zu bringen, belegen die Projekte von Finanztransaktionssteuern zur Speisung von Abwicklungs- und Einlagensicherungsfonds, aber auch die Idee einer europaweiten Arbeitslosenversicherung.
Einige Ansätze der Studien sind richtig, insbesondere die anvisierte Schrumpfung der Bankbilanzen, indem Bankkredite durch börsengängige Anleihen und Aktienemissionen ersetzt werden. Wie die Banken aber zu neuem Eigenkapital kommen sollen, wie die EU auf eine Kreditverknappung reagieren soll, wie die Verflechtung der Banken, die sich abzeichnende Collateral-Blase (gegenseitiges Ausleihen von Wertschriften) eingedämmt werden kann, wie Dominoeffekte zwischen Banken minimiert und die Klumpenrisiken "Staatsanleihen" reduziert werden können, bleibt offen. Mit Zentralismus und Umverteilung, mit neuen Luftschlössern, können die drei grundsätzlichen Probleme Europas nicht gelöst werden, gemeint sind die mangelnde globale Wettbewerbsfähigkeit mehrerer EU-Länder, die demographische Entwicklung (Überalterung und Schrumpfung der Bevölkerung) und die Bewältigung der Altlasten (Neuverschuldung und dramatische Schuldenberge, unfinanzierte Rentenversprechen).