Das jetzt erschienene Buch «Freie Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Schweiz», herausgegeben von Philipp Brunner, Tereza Fischer und Marius Kuhn, könnte als Zusammenfassung des Inhalts auch heissen «Versperrte Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Krise».
Pflichtlektüre für Ignoranten
Jedenfalls handelt es sich um eine Pflichtlektüre für alle jene, die dies für eine Zumutung halten, nämlich die der überwunden geglaubten Tradition anhängenden Medienchefs, der Film sei Jahrmarkt, weshalb die kritische Auseinandersetzung in den Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen an den Rand und schliesslich völlig aus dem Angebot gekippt werden dürfe.
Aus Kostengründen und zur vermeintlichen Freude des Publikums, das den Kinos mehr und mehr fernbleibe, weil von den Mobilgeräten gefesselt. Dass dort auch Filme geschaut werden, entgeht dem verengten Blick auf die Realität.
Als Gegenbeispiele ragen DRS 2 und SRF 2 Kultur heraus, die dem Film journalistisch treu bleiben und damit den Service public glaubwürdig konkretisieren.
«Den Leser bereichern»
Selbstverständlich ist das Buch, aus Anlass des 60-Jahr-Jubiläums der Zeitschrift «Filmbulletin» publiziert, auch ein Gewinn für jene, die sich mit höher geschraubten Ansprüchen für Filme interessieren, und insbesondere, last but not least, für Kritikerinnen und Kritiker, die in der audiovisuellen Sintflut sachkundig bewertend für Übersichtlichkeit sorgen und nach Perlen suchen.
Diese Tätigkeit besteht nach André Bazin, Mitbegründer der legendären «Cahiers du Cinéma», darin, «dem Leser zu helfen, sich im Kontakt mit dem Werk intellektuell, moralisch und in seiner Sensibilität zu bereichern». Der fast siebzig Jahre alte Satz ist noch aktuell.
Plädoyer für eine umfassende Geschichte
Geändert haben sich die Bedingungen der filmkritischen Arbeit. Sie entwickelt sich hin zur brotlosen Kunst, die unter dem wachsenden Druck der Produzenten, Regisseure und Verleiher mit immer geringerem Platz und weniger Personal ausgeübt werden muss und konfrontiert ist mit einer formal explodierenden Audiovision.
«Freie Sicht aufs Kino» schildert die Anfänge der Filmkritik in der Schweiz, analysiert die gegenwärtige Situation, mutmasst über die Zukunft, befasst sich mit den beruflichen Standards und Qualitätskriterien und den Auswirkungen des von den klassischen Medien zu den Online-Medien wechselnden Filmjournalismus.
Zahlreiche Themen und Probleme werden gestreift. Das genügt, um Fragen aufzuwerfen, aber mangels Vertiefung lediglich skizzenhaft beantworten zu können. Das Buch betont selbstkritisch seine Vorläufigkeit und versteht sich als anregendes Plädoyer für die Notwendigkeit einer umfassenden Geschichte der Schweizer Filmkritik. Sie wäre übers Fach hinaus kultur- und gesellschaftshistorisch wichtig.
Betulichkeit ist langweilig
Allerdings nährt «Freie Sicht aufs Kino» auch die Vermutung, die Filmkritik könnte ihre Krise mitverschuldet haben. Was sich Kritik nennt, ist oft eine unreflektierte Lobhudelei. Filme werden mit Samthandschuhen angefasst, obwohl ein kräftiges Zupacken geboten wäre. Vor allem Schweizer Filme sind die Begünstigten eines Gefälligkeits-Journalismus, der Schwächen verschweigt, dies als Fürsorge begreift und den gegenteiligen Effekt ausblendet. Mit Streicheleinheiten werden aus Dilettanten keine Genies.
Auch eine Filmkritik, die sich bloss auf Pressemappen stützt, Inhalte raffend nacherzählt, für die Beurteilung im moralischen Schrebergarten der Schreibenden verharrt und sprachlich schlottert, verfehlt ihre Aufgabe. Betulichkeit ist überdies langweilig.
Freude an Kontroversen
Die Messlatte liegt höher. Spezialkenntnisse, die Orientierungsfähigkeit in der umstürzenden Filmszene, die produktionell und inszenatorisch Kreativschub um Kreativschub erlebt, eine Neugier offenen Geistes und die Berücksichtigung veränderter Informationsgewohnheiten des Publikums sind unerlässlich. Gekoppelt mit dem Standvermögen gegen ökonomische Pressionen, die den Journalismus zur Unterwerfung unters PR-Diktat zwingen wollen.
Gerade darum ist eine kompetente und unabhängige Filmkritik erforderlich. Eine, die weder säuselt noch im Mainstream mitschwadert, sondern Meisterwerke und Machwerke beim Namen nennt und mit der Freude an Diskussionen beflügelnden Kontroversen Klartext redet. In dieser Richtung vermittelt das Buch ebenfalls wertvolle Impulse.
«Freie Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Schweiz», herausgegeben von Philipp Brunner, Tereza Fischer und Marius Kuhn, mit Beiträgen zahlreicher Autorinnen und Autoren, Schüren Verlag GmbH, Marburg 2019, 176 Seiten