Zwei Giganten des deutschen Films haben ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben und publiziert: der 80-jährige Werner Herzog und der 90-jährige Edgar Reitz. Beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten gelingt es, aus dem biografischen Stoff Literatur zu machen, spannende Literatur.
Herzog verwendet einen seiner Filmtitel für seine Erinnerungen. «Jeder für sich und Gott gegen alle» nennt er sein Buch und ist sich bewusst, dass er mit diesem Titel den Ruf, der ihm anhaftet, nämlich ein bis zur Sturheit gehender Einzelkämpfer zu sein, bestätigen wird. Ein Einzelkämpfer kann ein Filmer nur bedingt sein. Nehmen seine Projekte grössere Dimensionen an, sind sie, von der Geldbeschaffung bis zu den Produktionsbedingungen, auf Mitarbeiter, auf Teamwork angewiesen. Das trifft auch auf den Aussenseiter, den jenseits von jeglichem Mainstream arbeitenden Herzog zu. Zu seinem imposanten Werk (über fünfzig Filme) haben andere beigetragen: Herzog lässt die wichtigsten Freunde, Mitarbeiterinnen auftreten und entschuldigt sich bei all denen, die er im Buch nicht erwähnt.
Das Buch liest sich wie im Rausch. Herzog ist ein hochbegabter Schreiber, der es versteht, seine Leserschaft mitzureissen und zu fesseln. Knapp ist sein Stil, energisch, unheimlich zupackend. Um das pralle und abenteuerliche Leben zu schildern, das er führt, braucht er etwas mehr als dreihundert Seiten. Er erinnert sich episodisch, bringt, was ihm in den Sinn kommt, in 36 kurzen Kapiteln unter. Er ist der geborene Erzähler, behandelt die Ereignisse seines Lebens so, als wären sie fiktional, einem Roman zugehörig. Herzog lässt sich auf die absonderlichsten Ideen ein, arbeitet jahrelang mit einem ebenso genialischen wie monströsen Charakterschauspieler, Klaus Kinski, zusammen und dreht mit ihm die Filme, die ihn berühmt machen. Extreme Situationen braucht er anscheinend nicht zu suchen – sie springen ihn förmlich an. An besonders exponierten Stellen der Biografie durchdringen sich filmische und real existierende Wirklichkeit, die Macht der Fantasie dominiert das Geschehen und die Erzählung.
Eigene und Zeit-Geschichte
Edgar Reitz hat zwischen 1984 und 2006 fürs deutsche Fernsehen den «Heimat»-Zyklus geschaffen – 60 Stunden unvergessliche Filmarbeit, die er später mit der «anderen Heimat», fürs Kino gedreht, komplettiert. In seinen Erinnerungen, die er jetzt unter dem Titel «Filmzeit, Lebenszeit» publiziert hat, spielt die «Heimat» natürlich eine Hauptrolle. Reitz stammt aus dem Hunsrück, den er in seinen Filmen lebendig werden lässt und kommt, in allem, was er unternimmt, immer wieder auf ihn zurück.
Anders als Herzog verknappt er nicht, was er herausfiltert aus seinem Leben, sondern er breitet es aus, nähert sich den erinnerten Situationen und Stoffen auf verschiedene Art, mal als Erzähler, Berichterstatter, dann als Essayist, Philosoph oder, intimer, als Tagebuchschreiber. Er braucht denn auch mehr als sechshundert Seiten, um mit sich einigermassen zurande zu kommen. Die verschiedenen epischen Stile werden raffiniert kombiniert und machen die Lektüre zu einem abwechslungsreichen Ereignis.
Reitz beschreibt seinen Werdegang vom Industriefilmer zum gefeierten Vertreter des Autorenfilms in immer neuen Anläufen, gewährt tiefe Einblicke in die Produktionsbedingungen, die seine Grossprojekte erfordern, und lässt nebenbei die Zeitgeschichte sporadisch aufleuchten: Krieg und Nachkriegszeit wie auch das Entstehen einer neuen deutschen Filmkultur in den Sechzigerjahren flicht der 90-Jährige in seine Geschichten ein. Zeit und Heimat werden analysiert und die Fragilität von Erinnerungen immer aufs Neue thematisiert. Es trägt viel zum Reiz des Buches bei, dass einen der Autor im Unklaren lässt, wenn es um die Authentizität der geschilderten Szenen geht. Erinnerungen mischen sich mit Filmsequenzen aus der Hunsrücksaga, die ja eine vielstimmige Erzählung ist, getragen von einem Grossaufgebot von Laien und Profi-Schauspielern.
Verbundenheit
Herzog und Reitz kennen und schätzen sich, und den Beweis einer Verbundenheit gibt es auch – selbstverständlich in gefilmter Form. In einer der letzten Szenen des Films «Die andere Heimat» wird der weltberühmte Universalgelehrte Alexander von Humboldt in das (erfundene) Dorf Schabbach im Hunsrück kutschiert. Er will dort den Hauptrollenträger des Films, den kenntnisreichen Autodidakten Jakob Simon kennenlernen. Den Humboldt spielt Werner Herzog, der sich ausbedungen hat, dass er einen von Edgar Reitz gespielten Hunsrück-Bauern nach dem Weg fragen darf. Natürlich wird dem Wunsch stattgegeben. Reitz als Bauer dengelt seine Sense und gibt in breitem Hunsrück-Platt Herzog als Humboldt Auskunft.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle, Erinnerungen. München: Hanser Verlag 2022
Edgar Reitz; Filmzeit, Lebenszeit, Erinnerungen. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2022