Heute, Montag, feiern Muslime Eid al-Adha, das wichtigste Fest im islamischen Kalender, bei dem sie das Opfer des Propheten Abraham in Erinnerung rufen. Wie ein Staatsoberhaupt in einem islamischen Land sandte auch Premierminister Narendra Modi warme Festtagswünsche an seine muslimischen Mitbürger.
Meister der Verstellung
In Indien heisst das Fest Bakri Eid, ein Hinweis auf den Brauch, an diesem Tag ein Schaf zu schlachten und das Fleisch mit Familie, Nachbarn und armen Familien zu teilen. In Kaschmir allerdings, Indiens einzigem Staat mit einer muslimischen Mehrheit, mussten die meisten Familien auf dieses Ritual verzichten. Trotz einer kurzen Aufhebung des Ausgehverbots blieb nämlich das drakonische Versammlungsverbot in Kraft, das Modi vor einer Woche verordnet hatte.
Die Vieh- und Gemüsemärkte in Srinagar waren nach einer Woche des Lockdown im ganzen Bundesstaat ohnehin weitgehend leer. Am Samstag hatte die Regierung in Delhi Fotos über volle Regale in den Bazaren von Srinagar verteilt. Sie wurden von Journalisten vor Ort sogleich als Fake News entlarvt.
Der Premierminister ist ein Meister der Verstellung, nicht unähnlich seinem neuen britischen Amtskollegen. Wie Boris Johnson (und im Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten) serviert Modi seine „Fakten“ mit Augenzwinkern: Ich sage Euch die „Wahrheit“, aber auch ich weiss, dass sie falsch ist. Modis salbungsvolle Festtagswünsche kamen als Wünsche eines Landesvaters für seine Bürger daher. Doch sind sie so offensichtlich doppelzüngig, dass Modis Hindu-Anhänger ihm für sein gelungenes Rollenspiel applaudieren.
Keine Einsprachemöglichkeit
Das Meisterstück hatten er und sein Innenminister Amit Shah vor einer Woche geliefert, als sie den Autonomie-Status der Region aus der Verfassung entfernten, ohne den entsprechenden Paragraphen 370 formell zu löschen. Letzteres hätte die Zustimmung des betroffenen Regionalparlaments erfordert sowie eine Zweidrittel-Mehrheit in beiden nationalen Parlamentskammern. Keine der beiden Bedingungen wurden erfüllt.
Stattdessen fügte Shah dem Verfahrensparagraphen 367 eine kurze Klausel bei, dank der das Parlament von Jammu&Kaschmir (J&K) keine Einsprachemöglichkeit gegen eine Änderung des Autonomie-Statuts mehr hat. Sie lautet, dass der Gouverneur als Vertreter des Zentralstaats die Rolle des Regionalparlaments übernimmt, falls dieses ausfällt.
Vor bald einem Jahr wurde das Parlament in die Zwangsferien geschickt, wie dies die Zentralregierung bei schweren Unruhen für kurze Perioden anordnen kann. Damit ist nun der Gouverneur, d. h. der Staatspräsident, legitimiert, eine Statusänderung der Region „mit der Zustimmung der Lokalregierung“ anzuordnen, die verfassungsgemäss ist.
Taschenspieler-Trick
Was dieser dann auch sogleich tat. Modi/Shah doppelten gleich nach: Statt einem normalen Bundesstaat soll J&K zu einem Union Territory werden. Es wird also über eine reduzierte föderale Gesetzgebungsgewalt verfügen. Zudem wird das buddhistische Ladakh abgetrennt. In einer TV-Ansprache am 7. August verkaufte Modi auch diesen Statusverlust als weitere Konzession: Mit der Anbindung an Delhi – quasi dessen intimer Zuneigung – würden nun mehr Finanzmittel in die Region fliessen.
Ein weiterer Taschenspieler-Trick betraf die Vorgabe im Autonomiestatut von 1956, wonach dieses nur einen provisorischen Status hat. Es sei endlich an der Zeit, so Innenminister Shah, dass die Bewohner von J&K auch rechtlich als volle Bürger Indiens anerkannt würden, was sie in der Praxis – bei Wahlen etwa – ja bereits seien.
Extrawurst für Kaschmir?
In Wahrheit waren es die Kaschmirer, die mit dem Autonomie-Statut dafür kompensiert werden sollten, dass ihnen bei der Staatsgründung von 1947 das Mitspracherecht über einen Beitritt zur Indischen Republik verweigert worden war. Die Sonderrechte waren also provisorisch, damit sich die Bevölkerung später eindeutig entscheiden könne – für den Beitritt zu Indien, oder zu Pakistan, oder zu einem unabhängigen Staat. Auch dieses Versprechen war nie eingelöst worden.
BJP-Anhänger fragen, warum dieses Versprechen eingelöst werden soll. Auch die Bevölkerungen der 573 kleinen und grossen Königreiche des Subkontinents wurden damals nicht gefragt, so ihre Argumentation, ob sie dem Beitritt zur Indischen Union zustimmten. Ihre Herrscher entschieden darüber, nicht das Volk. Warum also eine Extrawurst für Kaschmir?
Die Antwort liegt im verwickelten Machtwechsel am Ende der Kolonialzeit. Hari Singh Dogra, der damalige Maharadscha von Kaschmir, war einer der wenigen Herrscher gewesen, die ihre Unterschrift zum Beitritt damals vorerst verweigerten. Gemäss dem britischen Trennungsplan wäre Kaschmir logischerweise an Pakistan gefallen, da es an die anderen muslimischen Mehrheitsregionen grenzt und selbst auch eine solche ist.
Der Verfassungscoup
Hari Singh war aber ein Hindu. Er träumte von einem unabhängigen Staat, denn er herrschte über ein Territorium von der Grösse Frankreichs, das sowohl an die Sowjetunion wie an China grenzte. Doch als pakistanische Freischärler im Oktober 1947 nach Srinagar vordrangen und eine Übernahme durch Pakistan drohte, rief er Indien zu Hilfe. Er war nun zu einem Beitritt bereit – mit der Bedingung einer Mitsprache des Volks; dies galt zumindest für die Teile Kaschmirs, die ihm noch blieben – 40 Prozent des Territoriums war inzwischen von Pakistan besetzt worden (und so blieb es bis heute).
Mit ihrem Verfassungscoup hat Modi nun neue Fakten geschaffen. Die fragwürdige Legalität ficht seine Anhänger – und in diesem Fall eine substantielle Mehrheit des Landes – nicht an. Selbst die Opposition – sogar Stimmen in der Kongresspartei – anerkennen, dass Artikel 370 ohnehin nur noch eine symbolische Bedeutung hatte, nachdem in den letzten sechzig Jahren auch Kongressregierungen die Autonomie immer mehr ausgehöhlt hatten.
Zunehmende Wagenburgmentalität
Doch Symbole können politisch virulent sein – und nirgendwo sind sie es mehr als in Kaschmir. Seit genau dreissig Jahren ist die Region von acht Millionen Einwohnern in einem Dreiecksgeflecht zwischen Delhis Besitzanspruch, Pakistans territorialen Forderungen und lokalen Unabhängigkeitswünschen verstrickt.
Dies hat das zentrale Tal von Srinagar nicht nur in ein Militär-Camp verwandelt; es hat den Tourismus, dessen wichtigste Einnahmequelle, zum Versiegen gebracht und die Freiheitsrechte der Bewohner immer mehr geknebelt.
Der vom pakistanischen Nachbarn inszenierte Terrorismus ist der Grund – und oft genug der Vorwand – für Delhis brutales Eingreifen, mit zahlreichen zivilen Toten, dem Verschwinden von Tausenden von „Verdächtigen“ und einer zunehmenden Wagenburgmentalität. Es bleibt ihnen nur noch Artikel 370 – eine eigene Verfassung, eine Flagge.
Das Festhalten am Paragraphen 370 ist aber nicht nur symbolischer Natur. Mit dessen Ausweidung wird auch der Verfassungsartikel 35 hinfällig, der nur Einheimischen Landbesitz zugesteht. Verbirgt sich dahinter, so die fiebrige Angst vieler Kaschmirer, eine Art „Tibet-Strategie“, ähnlich der demografischen Umschichtung Chinas in Tibet mithilfe der Ansiedlung von Han-Chinesen?
Schwärende Wunde
Gerade der Missbrauch dieses Schutzparagraphen durch reiche Kaschmirer gibt vielen Indern nun ein zusätzliches Argument, um bereits von einem Landkauf im „Paradies“ zu träumen. Premierminister Modi nährt solche Gelüste, wenn er, wie in seiner letztwöchigen TV-Ansprache, bereits laut lokale Investitionen für indisches Kapital ins Spiel bringt.
Er konnte dies umso unbesorgter tun, als die Aufhebung des kaschmirischen Sonderstatus in der indischen Öffentlichkeit geradezu euphorisch gefeiert wird. Dahinter verbirgt sich die endlich überwundene Frustration, dass diese mythische Traumlandschaft nur noch in Bollywood-Filmen zugänglich ist (und dies mit fingierten Schauplätzen, etwa aus dem Berner Oberland).
Zweifellos kommt aber auch eine zunehmend anti-muslimische Optik des indischen Mainstreams in Fahrt, die in Kaschmir den weichen Unterleib Indiens sieht. Es ist die schwärende Wunde im Body Politic, die durch Pakistan ständig neu islamistisch infiziert wird. Für viele war es Artikel 370, der dem Nachbarn Tür und Tor offenhielt.
Gefährdete Demokratie Indiens
Noch ist der brachiale chirurgische Eingriff der Modi-Regierung nicht vollendet. Zahlreiche Einsprachen aus der Zivilgesellschaft vor dem Obersten Gericht stehen bevor. Indiens Justiz ist eine der wenigen staatlichen Institutionen, die mit dem politischen Erdrutsch noch nicht ins Wanken geraten ist.
Falls das Gericht die dünne juristische Argumentation von Amit Shah schluckt, wird man wissen, dass auch diese Bastion gefallen ist. Die Hindutva-Bewegung bekäme damit nicht nur ideologisch noch mehr Rückenwind.
Auch Indiens föderale Demokratie käme dann in Schieflage. Denn wenn ein Verfahrensparagraph genügt, um einen Bundesstaat zu einem Anhängsel der Zentralregierung zu machen, dann kann dasselbe Prozedere auch einem Gliedstaat widerfahren, der sich – wie etwa Kerala – dem ideologischen und politischen Zugriff der Hindutva hartnäckig verweigert.