Felsmalerei, Höhlenmalereien im Museum? Und erst noch Originale? Das Museum Rietberg in Zürich schafft es. Es zeigt weder Malerei auf Fels noch Fotos solcher Malereien, die es seit rund 40’000 Jahren fast überall auf der Welt gibt. Aber es zeigt Originale, rund 130 insgesamt. Dahinter steht eine lange Geschichte.
Der Deutsche Leo Frobenius (1873–1938), als Ethnologe ein Quereinsteiger und dem etablierten akademischen Milieu fremd, befasste sich intensiv mit Steinzeitkulturen, mit Kulturtheorien generell und mit Afrikas Geschichte im Besonderen. Rastlos schrieb er zahlreiche Bücher über die Geschichte der Menschheit, über die selbst entwickelte exzentrische Theorie der Kulturmorphologie, über afrikanische Märchen. Und er sammelte und zeigte in Ausstellungen ethnologische Objekte vor allem aus Afrika.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs weilte er als Agent in Äthiopien, um im Sudan einen Aufstand gegen die Briten zu organisieren, was ihm misslang. 1932 wurde er Honorarprofessor für Ethnologie in Frankfurt und 1934 Direktor des dortigen Museums für Völkerkunde. Er muss von kämpferischer, fordernder und dominierender Natur gewesen sein, unerbittlich im Durchsetzen seiner Ideen und Pläne. Seine Arbeit fand auch in Afrika grosse Anerkennung. Der senegalesische Politiker und Schriftsteller Léopold Sédar Senghor schrieb von ihm, er habe „Afrika seine Würde und seine Identität wiedergegeben“.
Malerei statt Fotografie
Frobenius‘ wichtigste und mit enormer Energie vorangetriebene Tätigkeit: Schon früh startete er Expeditionen, um Felsmalereien in Afrika aufzuspüren – in der Sahara, aber auch im Süden. Er führte insgesamt zwölf Forschungsreisen durch, für deren Finanzierung er selber auf Subventionssuche ging – auch beim mit ihm befreundeten deutschen Ex-Kaiser Wilhelm II. und auch bei Adolf Hitler.
Die Expeditionen waren in jeder Beziehung und trotz einer Kolonne roter Ford A eine logistische Herausforderung. Begleiten liess sich Frobenius von einer Gruppe junger Künstlerinnen. Sie stammten meist aus begüterten Kreisen und bezahlten die Expedition selber. Vor Ort hatten sie sich dem Kopieren der Malereien zu widmen. Fotografieren war bei der unebenen Oberfläche der Felsen und Höhlenwände nur schwer möglich. Die Technik der Farbfotografie war noch weitgehend unbekannt oder unter Wüsten- und Tropenbedingungen kaum zu handhaben. Die mitgebrachte Leica diente nur der Dokumentation.
So entstanden im Lauf der Jahre an die 5’000 Kopien von Felsmalereien vor allem aus Afrika, aber auch aus Asien, Europa, Australien – unschätzbar wertvolle Dokumente, die das Frobenius-Institut in Frankfurt hütet. Unschätzbar auch deshalb, weil viele der Malereien an Ort und Stelle unter Klima, Witterung und Vandalismus litten. Rund 130 Originale – meist Aquarell auf Papier, manche im Riesenformat, entstanden ab 1929 – zeigt das Museum Rietberg in einer Ausstellung, die zuvor in Berlin im Martin-Gropius-Bau und in Mexico City mit dem Titel „Kunst der Vorzeit – Felsbilder aus der Sammlung Frobenius“ zu sehen war. In Vitrinen ausgelegte Text- und Fotodokumente geben Aufschluss über Frobenius und sein Vorhaben. Das Katalogbuch mit Aufsätzen vieler Fachleute bietet einen ganzen Strauss wertvoller Informationen und Kommentare.
„Work in Progress“
Felsmalereien sind schwer zu datieren. Die C-14-Methode funktioniert nur bei organischen Farbstoffen, nicht aber bei Mineralfarben. Heute rechnet die Wissenschaft für die ältesten Felsmalereien in Südeuropa mit einem Alter von etwa 40’000 Jahren. Die Höhle von Chauvet in der Ardèche wurde 30’000 oder 26’000, jene von Lascaux etwa 15’000 vor Christus ausgemalt. Felsmalereien in der Sahara sollen rund 10’000 Jahre alt sein. Frobenius’ Datierungen sind sehr unbestimmt. Er spricht von mehreren zehntausend Jahren, und immer wieder stösst man bei ihm auf Angaben wie „2000 vor Christus bis heute“, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass die Malereien immer wieder übermalt und überarbeitet wurden, gewissermassen ein „Work in Progress“, das bis in seine Gegenwart andauerte.
Mit anderen Worten: Die Künstlerinnen arbeiteten an diesem „Work in Progress“ weiter und wurden nach Meinung von Frobenius selber Teil der alten Tradition der Nachschöpfung – und zum Teil jener uralten Kulturen, welche diese Weltbilder erst entstehen liessen. Heute ist uns bewusst: Was die Künstlerinnen nach Hause brachten, sind Bilder von Bildern. Sie sind Interpretationen, beeinflusst auch von den persönlichen Befindlichkeiten der Malerinnen und den schwierigen Umständen, unter denen sie ihre Arbeit tun mussten. Die Qualität der Interpretationen ist schwer zu beurteilen, da uns die Vergleiche fehlen.
Pathos und Überschwang
Die Äusserungen von Leo Frobenius zu den archaischen Kunstwerken klingen für heutige Ohren pathetisch und überschwänglich. Sie werden oft zu einem Geraune, das vor den Werken keine konkreten Konturen gewinnt. Ein für sein Kulturverständnis typischer Ausdruck ist der kaum fassbare Begriff „Kulturseele“. Kein Wunder, dass sich da, wenn auch über Umwege, eine Verbindung von Frobenius zum „Meister“ Stefan George (1868–1933) ergab.
Der Katalog zur Ausstellung bietet Beispiele für Frobenius’ weihevoll geschwollene Sprache. 1935 schrieb er etwa, die Felsmalereien seien eine Art „Kinderspiel“: Dieses „Kinderspiel ist der Urquell aus heiligsten Grundwässern aller Kultur“. Aus diesem Spiel entstehen das Maskenspiel, das Mysterienspiel und das auf den Felswänden abgebildete „kosmische Spiel“: „Denn in diesem Spiel tritt die Fähigkeit zutage, sich seelisch und in voller Wirklichkeit einer zweiten Erscheinungswelt hinzugeben, indem das Menschlein oder der Mensch sich von einer Erscheinung, die ausserhalb seiner natürlichen Beziehungen und ihrer selbstverständlichen Ursachen liegt, ergreifen lässt.“ Damit ist der für Frobenius’ Kulturmorphologie entscheidende Begriff „Ergriffenheit“ gefallen: „Ergriffenheit“ steht für ihn als kreative Phase am Anfang jeder kulturellen Äusserung.
Da scheint es folgerichtig, dass Frobenius in seinen Deutungen sehr weit ging und die Inhalte der Malereien in einer Weise deutete, die heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Er entwickelte auch abenteuerliche Wandertheorien über die Felsmalereien, von denen die sehr viel nüchternere heutige Archäologie längst Abstand genommen hat. Sein Zeitgenosse, der Franzose Abbé Breuil (1877–1961), der bahnbrechende Erforscher südwestfranzösischer Steinzeitkulturen, war in Sachen Chronologie sehr viel präziser. Er ging mehr in die Tiefe als, wie Frobenius, in die Breite.
Wir wissen wenig bis nichts
Doch was sehen wir auf diesen Bildern? Tiere, Menschen, Prozessionen, Tiere und Menschen vereint in einem Bild in Jagd- oder Herdenszenen, Büffel, Giraffen, Elefanten, rätselhafte Gebilde, die Frobenius, weil er sie nicht deuten konnte oder wollte, „Formlinge“ nannte. Es gibt Bilder von tanzenden oder schwimmenden Menschen. Manche Darstellungen sind realitätsnah, andere auf Silhouetten reduziert. Hier herrscht Zeichnerisches vor, dort ein malerischer Duktus, da Bewegung, dort Statisches. Das Kolorit ist gedämpft und von Erdfarben dominiert.
Die Deutungen prähistorischer Kunst sind problematisch, und allzu rasch sind Schlagworte wie „Beschwörung“, „Ritual“, „Opfer“, „Mythologie“ oder gar „Zauber“ zur Hand. Die oft mit viel Betroffenheit vertretene These, dass sich hier unserem Auge der „Ursprung der Kunst“ darbiete, klingt schön, bietet aber mehr Emotionen als Handfestes. Im Grunde müssen wir uns eingestehen: Wir wissen wenig bis nichts. Wir wissen nichts über die Künstler, über das, was diese dachten, über ihre Intentionen, ihr „Kunstwollen“, wenn es denn das überhaupt gab. Es bleibt ein weites und offenes Interpretationsfeld und damit Raum für Spekulationen. Unsere Interpretation wird stets mehr über uns aussagen als über das, was wir interpretieren wollen. So bleibt vor allem das Bewundern einer bereits vor Jahrzehntausenden manifesten menschlichen Kreativität, deren gestalterische Ergebnisse uns noch heute faszinieren und sprachlos machen können.
Steinzeitkunst und die Moderne
Sie faszinieren uns heute in ähnlicher Weise, wie die „primitive“ Kunst indigener Völker Afrikas oder der Südsee die Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts faszinierte. Dass Nolde, Kirchner, Pechstein und andere Expressionisten, dass auch Picasso und viele französische Künstler auf die damals neu entdeckte „Neger-Kunst“ künstlerisch intensiv reagierten, oder dass sich Giacometti die Skulpturen der Etrusker sehr genau ansah, zeigen ihre Werke.
Frobenius’ Felsmalerei-Kollektion tourte ab den beginnenden 1930er-Jahren durch Europa – sie war auch in Zürich zu sehen – und die USA und wurde rasch und breit rezipiert (und später weitgehend vergessen). Schon damals waren Brücken von Steinzeitkunst hin zur Moderne rasch geschlagen. 1953 trug eine Pariser Ausstellung den signifikanten Titel „40’000 ans d’art moderne“. Im Katalogbuch zur Ausstellung im Museum Rietberg gehen drei Beiträge engeren Verbindungen zwischen Künstlern – Willi Baumeister, WOLS und Ernst Ludwig Kirchner – zu Frobenius nach. In der Ausstellung selber belegen einige wenige Werke der Moderne (von Klee zum Beispiel) das künstlerische Echo auf die Frobenius-Sammlung.
Museum Rietberg, Zürich. Bis 11. Juli. Katalog 49 Franken