Die im SBVV zusammengeschlossenen Buchhändler und Verleger haben sich während mehr als hundert Jahren für einen wesentlichen Teil ihres Sortiments den Schutz einer rigorosen Preisbindung geniessen und - als eine der Konsequenzen - den Buchkäuferinnen und ‑käufern für die von der Preisbindung betroffenen importierten Bücher Preise aufzwingen können, welche weit über den zu einem realistischen Wechselkurs umgerechneten Preisen in den Ursprungsländern liegen.
Durch das BuPG soll die seit Mai 2007 aufgehobene Buchpreisbindung wieder eingeführt werden. Das BuPG verstösst zwar, wie zu zeigen sein wird, eindeutig gegen die Bundesverfassung (BV); es ist jedoch durch Art. 190 BV («Bundesgesetze ... sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.») der Überprüfung auf seine Verfassungsmässigkeit entzogen.
Die von den schweizerischen Buchhändlern und Verlegern während Jahrzehnten praktizierte Preisbindung war ein klassisches Kartell; die Wiedereinführung der Buchpreisbindung durch das BuPG ist mit dem in Art. 27 BV festgelegten Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit unvereinbar, und es verletzt die in Art. 94 ff. BV festgelegten Grundsätze der Wirtschaftsordnung, insbesondere den Art. 96 BV, wonach der Bund Vorschriften gegen volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen erlässt und Massnahmen zur Verhinderung von Missbräuchen in der Preisbildung durch marktmächtige Unternehmen und Organisationen des privaten und des öffentlichen Rechts trifft (die entsprechenden Vorschriften sind im Kartellgesetz enthalten). Im folgenden sollen der Werdegang des BuPG in Erinnerung gerufen und die Fragen aufgezeigt werden, welche sich Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Zusammenhang mit der Referendumsabstimmung über das BuPG stellen müssen.
Im Laufe der Jahre hatten sich die Wettbewerbskommission (Weko) und der Preisüberwacher mehrmals mit den Praktiken im Buchhandel zu befassen. Nachdem das verschärfte Kartellgesetz vom Oktober 1995 Mitte 1996 in Kraft getreten war, eröffnete die Weko im September 1998 eine Untersuchung über die Preisbindung für deutschsprachige Bücher; Resultat dieser Untersuchung war eine Verfügung vom September 1999, wonach die vom SBVV praktizierte Preisbindung gegen das Kartellgesetz verstosse und deshalb unzulässig sei. Der SBVV erhob Beschwerde an die damalige Rekurskommission für Wettbewerbsfragen (RKW) und, nachdem sich diese im Mai 2001 der Auffassung der Weko angeschlossen hatte, an das Bundesgericht.
Dieses hiess im August 2002 eine Beschwerde des SBVV teilweise gut und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Weko zurück. Sie entschied im März 2005 erneut auf Unzulässigkeit der Preisbindung und wurde im Juli 2006 durch die RKW sowie im Februar 2007 durch das Bundesgericht geschützt. Der SBVV gelangte darauf an den Bundesrat mit dem Gesuch, die Buchpreisbindung gemäss dem Ausnahmeartikel des Kartellgesetzes (Art. 8: «Wettbewerbsabreden und Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen, die von der zuständigen Behörde für unzulässig erklärt wurden, können vom Bundesrat auf Antrag der Beteiligten zugelassen werden, wenn sie in Ausnahmefällen notwendig sind, um überwiegende öffentliche Interessen zu verwirklichen.») zuzulassen. Auch der Bundesrat schloss sich im Mai 2007 der Meinung von Weko, RKW und Bundesgericht an und lehnte das Gesuch des SBVV ab.
Der SBVV wollte sich mit dem bundesrätlichen Entscheid nicht zufriedengeben, sondern mobilisierte das Parlament: Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats (WAK NR) erarbeitete aufgrund einer parlamentarischen Initiative von Nationalrat Jean-Philippe Maitre einen Entwurf für ein Bundesgesetz über die Buchpreisbindung (BuPG). Obwohl der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf unzweideutig auf dessen Verfassungswidrigkeit hingewiesen und Nichteintreten beantragt hatte, hiessen National- und Ständerat das Gesetz im März 2011 gut.
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger werden sich bei der Beurteilung der Vorlage zwei Fragen stellen müssen:
Einmal geht es darum, ob die Wiedereinführung der Preisbindung der richtige Weg ist, um das «Kulturgut Buch» zu erhalten. Mit dieser Frage, die auch bei der parlamentarischen Beratung des BuPG im Vordergrund stand, hat sich in der NZZ vom 16. August 2011 (S. 17) der Vizepräsident des SBVV aus direkt interessierter Sicht befasst, und seine Argumente, weche durch Weko, RKW, Bundesgericht und Bundesrat nach umfassender Sachverhaltsabklärung mit sorgfältiger Begründung verworfen wurden, sollen an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden.
Aus rechtsstaatlicher Sicht wichtiger ist die zweite Frage, welche das Schweizer Volk unabhängig von der Beantwortung der ersten beurteilen muss: Wollen wir tolerieren, dass eine Interessengruppe, deren Anliegen vor allen zuständigen Behörden (Weko, RKW, Bundesgericht und Bundesrat) u.a. wegen Verfassungswidrigkeit gescheitert ist, ihren Standpunkt trotzdem durchsetzt, indem sie das Parlament zum Erlass eines eindeutig verfassungswidrigen Gesetzes veranlasst und so bewusst davon profitiert, dass Art. 190 BV die Überprüfung des Gesetzes ausschliesst?
Der Grundsatz, dass Bundesgesetze der Überprüfung durch Gerichte und andere rechtsanwendende Behörden entzogen sind, steht schon seit der Totalrevision von 1874 in der Bundesverfassung. Zu jener Zeit gab es noch wenig Bereiche, welche der Bundesgesetzgebung unterstanden, und die Bundesgesetze waren relativ einfach. Inzwischen hat sich der Aufgabenkreis des Bundes gewaltig ausgeweitet, und die Bundesgesetze sind viel komplexer geworden. Deshalb ist die Frage, ob der in Art. 190 BV normierte Grundsatz noch zeitgemäss sei, in den vergangenen Jahrzehnten mehr als einmal gestellt worden; die eidgenössischen Räte lehnten jedoch die Unterstellung ihrer gesetzgeberischen Arbeit unter die Kontrolle der Gerichte stets ab (letztmals im Zusammenhang mit der BV-Totalrevision vom April 1999, als ein entsprechender Antrag des Bundesrates scheiterte).
Die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen steht heute wieder auf der politischen Tagesordnung, hat doch die Rechtskommission des Nationalrates im Februar 2011 die ersatzlose Streichung des Art. 190 BV vorgeschlagen. Bei der Beratung des Vorstosses werden die Gegner der Verfassungsgerichtsbarkeit zweifellos wie in der Vergangenheit u.a. argumentieren, es sei höchst unwahrscheinlich, dass der Bundesgesetzgeber ein verfassungswidriges Bundesgesetz beschliesse; der Erlass des BuPG zeigt jedoch, dass dieses Argument nicht (mehr) sticht: Die Mehrheit des Parlaments hat sich über die Verfassungswidrigkeit des BuPG hinweggesetzt, um einer Branche die Wiedereinführung einer harten Preisbindung zu ermöglichen, deren Aufhebung alle zuständigen Instanzen mit überzeugender Begründung gutgeheissen haben.
Das vom Dachverband der Buchhändler und Verleger erzwängte BuPG ist ein gesetzgeberischer Sündenfall; dass sich 119 Mitglieder der Bundesversammlung dazu hergegeben haben, durch den Erlass des BuPG nicht nur die zuständigen rechtsanwendenden Behörden, sondern auch die Bundesverfassung auszuhebeln, gehört an den Pranger gestellt. Bei der Referendumsabstimmung geht es um weit mehr als nur um die Preisbindung im Buchhandel: Durch den Erlass des BuPG hat die Glaubwürdigkeit des Bundesgesetzgebers gelitten; Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben es in der Hand, den Misstritt zu korrigieren und dadurch zu verhindern, dass das BuPG-Beispiel Schule macht, d.h. dass sich in Zukunft andere Interessengruppen - seien es Wirtschaftsverbände oder politische Parteien - die Unüberprüfbarkeit von Bundesgesetzen in ähnlicher Weise wie der SBVV zu Nutzen machen.
Dr. Felix H. Thomann ist Rechtsanwalt in Basel.