Allen Aussenwänden des Erweiterungsbaus des Kunst Museums Winterthur beim Stadthaus entlang läuft ein Fries: Auf Augenhöhe sind, an unsichtbaren kleinen Haken, Früchte und Gemüse angebracht. Apfel, Orange, Blaubeere, Salat, Ananas usw. sind frisch – und zeigen denn auch Spuren der Zeit und Vergänglichkeit. Oder drastischer gesagt: Sie welken, schimmeln oder faulen gar vor sich und platschen irgendwann zu Boden, worauf das Museumspersonal den Boden säubert und für Nachschub sorgt.
Karin Sander (*1957 in Bensberg, Nordrhein-Westfalen), die in Zürich an der ETH Architektur und Kunst unterrichtet, unterwirft in diesen „Kitchen Pieces“ in der klaren Winterthurer Museumsarchitektur Alltäglich-Gewohntes und damit auch uns als Besucherinnen und Besucher subtil-langsamen oder doch auch recht zügigen Veränderungen: Sie schärft, da die Zersetzungsprozesse unterschiedlich ablaufen, unser Gefühl für die Dimension Zeit – ähnlich wie in der berührenden und gleichzeitig schlichten Video-Arbeit „Sigrid“: In einem kleinen Raum sehen wir die Video-Überspielung eines von knatterndem Projektor-Geräusch begleiteten kurzen Films von 1930, der das kleine Mädchen Sigrid beim Ballspiel auf einer Wiese zeigt. Im Nebenraum zeigt ein neues Video, wie die Hände der nun hochbetagten Sigrid einen kleinen roten Therapieball bewegen.
Karg und sparsam
Karin Sanders Arbeiten wirken karg und sparsam. Doch die Kargheit wird, geht man der Sache auf den Grund, zum weiten Raum, in dem unser Denken und Fühlen ausschweifen kann. Die Künstlerin bedient sich dabei leiser Töne, die sich aber umso unvergesslicher in unsere Wahrnehmung einnisten. Zwei schon Jahre zurückliegende Beispiele: 1994 polierte Karin Sander ein ungekochtes, nicht ausgeblasenes Hühnerei so, dass die Oberfläche den ganzen Umraum inklusive Betrachter spiegelte. Im Kunstmuseum Stuttgart lag die kleine verletzliche Kostbarkeit, bewacht von der Aufsicht, ohne Vitrine auf einem Sockel. 1996 brachte sie Im Kunstmuseum St. Gallen einzelne Stellen der weissen Wände – je nach Lichteinfall kaum wahrnehmbar – auf Hochglanz, so dass wir uns darin spiegelten.
Karin Sander rührt mit solchen und weiteren installativen und konzeptionellen Arbeiten an Grundsätzliches, und das auf ganz verschiedenen Ebenen und oft auch mit deutlich ironischer Note. Das zeigt die aktuelle Ausstellung im Erweiterungsbau des Winterthurer Museums, die im Haus Reinhart am Stadtgarten eine sich in die Sammlungspräsentation einschlängelnde Fortsetzung findet.
Doppelbödige Eingriffe
Doch vorerst nochmals zu den Räumen des Erweiterungsbaus im Museums beim Stadthaus. Karin Sanders Eingriff in diese wunderbare Architektur ist vielschichtig. Da ist ja nicht nur der Obst-Gemüse-Fries, der eine schöne und lebendige Farbspur über die Wände zieht. Über mehrere Räume hebt die Künstlerin den Boden um 15 cm an, lässt uns zögernd fragen, ob wir das Podest betreten dürfen – und verändert mit dieser wohl geringen, aber doch entscheidenden Verschiebung unsere Wahrnehmung der Räume und der Werke, die darin präsentiert werden, zum Beispiel im Mittelraum, als listiger Kontrapunkt zum „lebendigen“ Obst und Gemüse an den Wänden, Früchte-Stillleben aus der hauseigenen Sammlung.
Entscheidend auch ein weiterer Eingriff in diese Räume, die über drei bis zum Boden reichende Fenster verfügen. Vor sie setzt Karin Sander in einigem Abstand je eine weisse, zum Bemalen bereite Leinwand genau in der Grösse der Fenster. Die Leinwände versperren die Aussicht in den Park, spiegeln aber zugleich das Geschehen im Raum und verändern sich zusätzlich während des Tages und während der ganzen Ausstellungsdauer – während des Tages wegen der stets wechselnden Lichtverhältnisse, während der Ausstellungsdauer wegen der Witterungseinflüsse wie Wind und Wetter.
Diese Leinwände gehören zur Gruppe der „Gebrauchsbilder“, der sich Sander seit etwa 1990 widmet: Statt dass sie als Künstlerin das Bild vollendet, nehmen die Zeit und der Gebrauch der Bilder durch die Besitzer das „Bemalen“ dieser Leinwände vor. Folgerichtig lässt sie solche Werke – die „Mail Pictures“ – unverpackt und gänzlich ungeschützt verschicken, eine Horror-Vorstellung für jeden Sammler und Konservator. Ähnlich wie bei den „Kitchen Pieces“ gibt die Künstlerin den künstlerischen Prozess aus der Hand und stellt unter öffentliche Beobachtung, wie sich die Sache entwickelt – langsam und kaum merklich zu Beginn, deutlich und gravierend mit der Zeit. Das zeigt sich in Sammlungsräumen des Museums am Stadtgarten, wo nun unmittelbar neben einem Werk Giovanni Segantinis eine dieser Leinwände mit intensiven Gebrauchsspuren hängt. Hier auch interveniert sie in einigen die Kunst der Romantik zelebrierenden Räumen mit grell leuchtenden Glasskulpturen, sie sich weich über Fensterbänke oder Sockel schmiegen.
Salatkopf zwischen den Niederländern
Da offenbaren sich weitere Aspekte von Karin Sanders Arbeit, die einerseits, in den „Gebrauchsbildern“, zum Diskurs über fundamentale Malerei und ihre Entstehungsbedingungen wird und andererseits die Debatte um Rolle und Auftrag des Museums als Ort des Sammelns und Vermittelns von Kunst aufnimmt. Auch in dieser Institutionenkritik operiert die Künstlerin behutsam leise und gewissermassen bedächtig, doch deswegen nicht weniger radikal: Ein welkender Salatkopf auf den dunkelroten Galeriewänden mitten unter Niederländern spricht eine deutliche Sprache.
Einen weiteren Eingriff Karin Sanders in die Winterthurer Museumsarchitektur kann nur wahrnehmen, wer sich eine 3D-Brille überzieht: Zu erleben und zu begehen ist als virtuelle Realität ein alternatives Ausstellungs-Konzept in den gleichen Räumen – mit entfernten tragenden Wänden und neu zu kleinen Mäuerchen aufgeschichteten Backsteinen: Eine erneute Unterwanderung der Institution Museum. Diesen radikalen Eingriff in die Wirklichkeit hätte das Museum nur unter Aufgabe der eigenen Eckwerte zulassen können. Da artikuliert sich jene Selbstironie, die in der ganzen Ausstellung allerdings, Karin Sander entsprechend, vielleicht eher subkutan zur Wirkung gelangt.
Kunst Museum Winterthur – Beim Stadthaus und Am Stadtgarten, bis 18. November 201; Kurator: Konrad Bitterli, Direktor
Als Katalog erschienen zwei Kriminalromane von Olivier Bottini und Zoë Beck.
Fotos: Niklaus Oberholzer