Der «Westen» pflegt autokratischen Regimes Völker- und Menschenrechtsbruch vorzuwerfen. Er klagt Rechte ein, die andere keineswegs als selbstverständlich betrachten. Mit welchem Recht also erklärt sich die «westliche» Rechtsordnung für allgemeinverbindlich?
Keiner hat die Frage radikaler und polemischer gestellt als der deutsche Rechtsphilosoph Carl Schmitt, theoretischer Mitbegründer der Nazi-Justiz. In ihm begegnet uns der Apologet der Feindschaft als Condition humaine. Bezeichnenderweise erfreut sich sein bellizistisches Gedankengut – speziell in techno-autokratischen Kreisen Chinas und fascho-autokratischen Kreisen Russlands – einer dubiosen Wiederbelebung.
Lange vor Michel Foucault hob Schmitt den Krieg als Realgrund des Rechts und der Politik hervor. Die Kernfäule des liberalen Systems liege darin, dass sie das Politische dem Rechtlichen unterordne, das Politische «neutralisiere». Mit «neutralisieren» meint Schmitt «denaturieren». Als Hintergrund fungiert ein Standardkonzept aus dem Arsenal der Reaktion: Die Naturordnung – das «Organische» – bildet den Gegenpol zu einem universalistischen Normenkorsett – zum «Künstlichen». Auf dem Planeten herrscht ein «organisches» Gesetz. Schmitt nennt es «Nomos der Erde», eine metaphysisch aufgestelzte Legitimation kolonialistischer Usurpation: «So ist die Landnahme für uns nach aussen (gegenüber anderen Völkern) und nach innen (für die Boden- und Eigentumsordnung eines Landes) der Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorgangs.»
Nach Schmitt ist der Liberalismus widernatürlich. Er scheut den «echten» Konflikt. In diesem Zusammenhang kann eine weitere konservative Ingredienz nicht fehlen: die Erzählung vom Sinnverlust modernen Lebens. Der Liberalismus «entzaubert» die Politik, indem er ihr die Sinn und Ernst stiftende Dimension des Kampfes – auch des Tötens – raubt. Er verkennt, dass unterhalb von Gesetz und Norm permanenter Kampf und Krieg herrschen, eine «im Bereich des Realen liegende Eventualität».
Daraus resultieren der vom Recht geleitete «seelenlose Mechanismus» bürokratischer Staatsführung, die auf Konventionen beruhende Ordnung der Nationen, der spirituelle Verfall der Politik. Sinnverlust bedeutet für Schmitt Feindverlust: «Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten.»
Der «Ausnahmezustand»
Gravitationszentrum dieses Denkens ist der tödliche Ernstfall oder Ausnahmezustand. Es gibt keine Regeln «von Natur aus», Regeln entstehen vielmehr durch Ausnahmezustände, sie werden in der Gewalt der Schlachten geboren. Und der siegende Gewaltinhaber definiert das Recht. «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet», lautet das berüchtigte Zitat.
Der Souverän «entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen». Das ganze Schmittsche Projekt sucht eine Restitution dieser Souveränität, der «höchste(n), nicht abgeleitete(n) Herrschermacht». «Nicht abgeleitet» bedeutet: Die Macht ist Beweis ihrer selbst. Sie braucht keine philosophische oder juridische Begründung, sondern gilt kraft einer Entscheidung. Und die unbegrenzte Entscheidungsbefugnis dieser Macht verleiht ihr einen quasigöttlichen Status.
«Schmitt-Moment» in Hongkong
Aber was oder wer ist «der» Staat? In der Frage liegt die verführerische Volte zum Autokratismus. Denn für das Management des Ausnahmezustands am besten geeignet ist ein starker Führer oder eine Führungsclique. Sie ist «der Souverän». Die Autokratie oder Oligokratie – die Herrschaft der Wenigen – erweist sich für Schmitt so gesehen als die genuine Form der Demokratie, der Herrschaft der Vielen. «Souveräne Demokratie» nennt man in China und Russland dieses hölzerne Eisen. Sie braucht den Ausnahmezustand, sprich: den Staats- oder Volksfeind, als Existenzgrundlage.
Nichts demonstriert die verdrehte Logik deutlicher als die Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong 2020. Die Proteste der Bevölkerung stellten die staatsfeindliche «Ausnahme» dar, also musste der «Souverän» reagieren. Man sprach in China vom «Schmitt-Moment». Einer der massgeblichen Theoretiker hinter diesem Moment, der Rechtswissenschafter Chen Duanhong, beruft sich ausdrücklich auf den Deutschen. Wenn der Staat in einer Notlage sei, so Chen, dann legitimiere dies die Führung via Entscheid, Bürgerrechte zu suspendieren: «Das Führungsrecht der kommunistischen Partei ist das fundamentale Faktum der chinesischen Verfassung». Im Klartext: Das Recht auf Staatsrepression.
Einer der Hammersätze Schmitts lautet: «Das Recht ist nicht im Staat, der Staat ist im Recht.» Chen klingt ähnlich: «Der Souverän verschafft der Verfassung Geltung und Vitalität». Der Souverän ist das Volk unter der Führung der kommunistischen Partei, also letztlich die Parteispitze. Sie repräsentiert das Volk und kann ihm legitimerweise auch eine von Bürgerrechten und -freiheiten gelöste «souveräne Demokratie» diktieren.
Der grossrussische Partisan
Ein weltpolitischer Ausnahmezustand hält uns gegenwärtig in Atem. Russland sieht sich vom liberalen westlichen «Hegemon» bedroht. Hier gewinnt eine wichtige Figur Schmitts an Aktualität: der Partisan. Alexander Dugin, der philosophische Scharfmacher und «Endkämpfer» im faschistischen Denksumpf, nimmt ihn emphatisch in russischen Beschlag. Es sei die liberale Ordnung, die überall «entscheide», und das hält Dugin für eine «organische Ungerechtigkeit»: «Wenn andere – das heisst die Befürworter des ‘Universalismus’, der ‘Menschenrechte’, des ‘Egalitarismus’ (…) –, die Entscheidung treffen, dann wird die Zukunft nicht nur ‘nichtrussisch’ sein, sondern ‘allgemein-menschlich’ und damit ‘No future’ im Sinn von: keine Zukunft für das Volk, die Nation, den Staat. Unsere Vergangenheit wird ihre Bedeutung verlieren und das Drama der grossen russischen Geschichte wird sich in eine alberne Farce auf dem Weg zum Globalismus und zur vollständigen Verflachung in einer ‘universellen Humanität’ verwandeln.»
In den Augen Dugins ist Russland eine Nation, die sich rechtlos gemacht sieht. Und daraus folgt das Recht auf Partisanenkrieg. Wie Schmitt schreibt: «In der Feindschaft sucht der rechtlos Gemachte sein Recht. In ihr findet er den Sinn der Sache und den Sinn des Rechts, wenn (…) das Normengewebe der Legalität zerreisst, von dem er bisher Recht und Rechtsschutz erwarten konnte. Dann hört das konventionelle Spiel auf.» Wahrlich!
Dugin verdankt nach eigenen Angaben die «ideologische Kreativität» und «politische Imagination» dem Denken Schmitts. Einen Eindruck dieser kreativen Imagination vermittelt das Elaborat «Carl Schmitts fünf Lektionen für Russland». Dugin deliriert hier einen neu-eurasischen Grossraum: «Wir leben heute im Ausnahmezustand, auf der Schwelle einer Entscheidung von so grosser Wichtigkeit, wie sie unsere Nation wohl noch nie gesehen hat.»
Der wahren Elite – lies: Dugin und Konsorten – obliege die Aufgabe, das Volk innerlich mit einer Ideologie zum Partisanenkampf gegen den liberalen Welthegemon aufzurüsten. Mit grossrussischer Geste umarmt Dugin Schmitt als Seelenverwandten: «Wenn ein deutsches Genie unserem Erwachen hilft, dann verdienen die Teutonen einen privilegierten Platz unter den Freunden Grossrusslands, und sie werden zu den ‘Unsrigen’, zu ‘Asiaten’, ‘Hunnen’ und ‘Skythen’ wie wir – die Urbevölkerung der grossen Wälder und Steppen.»
Waren das die Marodeure von Butscha?