«Wie war dein Tag?» pflegte sie ihren Mann zu fragen, wenn sie abends müde von der Arbeit heimkam und ihre Jacke im Flur an einen Kleiderbügel hängte. Sie arbeitete als Sekretärin des Chefs einer Versicherungsgesellschaft. Ihr Mann, seit drei Jahren Rentner, hatte auf einem Dorf bei Bern eine Bankfiliale mit drei Angestellten geleitet. Er war neun Jahre älter als sie, und sie waren seit 34 Jahren miteinander verheiratet.
«Wie war dein Tag?»
Während sie in der Küche Teewasser überstellte und im Kühlschrank nachschaute, ob noch etwas zum Essen da sei, berichtete er ihr, dass er am Vormittag im Park spazieren ging, nachher Wurst und Radieschen kaufte, zu Hause zu Mittag ass, eine kurze Siesta machte, im Café «Zum Raben» einen Espresso trank und die Zeitung las, die Kellnerin habe sich eine Weile zu ihm gesetzt, weil kein anderer Gast im Lokal war …
Sie war zu müde, um ihm aufmerksam zuzuhören.
«Ich habe bei Zumbach hausgemachte Ravioli gekauft», sagte sie. «Möchtest Du die zum Abendessen? Oder lieber Brot und Käse? Ich hab Chaource gekauft, sehr weichen, reifen.»
«Ravioli wäre fein. Nachher ein Stück Chaource mit einem Glas Burgunder. Ich kann mir nichts Besseres denken. Nimmst Du auch vom Chaource?»
«Für heute ist mir der Käse zu schwer. Aber Ravioli nehme ich.»
Während sie sich in der Küche ans Kochen machte und nebenbei den Tisch deckte, schaute er sich am Fernsehen die Abendnachrichten an. Bilder vom Bürgerkrieg in Syrien.
«Das hört nicht auf in Syrien!» rief er in die Küche. «Der Mann ist verrückt. Warum erschiesst ihn niemand?»
«Den Hitler hat auch niemand erschossen», rief sie zurück.
Als sie das Essen auftrug, erhob er sich schwerfällig von seinem Sessel und setzte sich an den Tisch. Er war dicklich geworden, seitdem er nicht mehr arbeiten ging.
«Mhm!», sagte er, «das duftet verheissungsvoll.»
Sie schöpfte Ravioli aus der Pfanne in zwei Suppenteller, schnitt zwei Scheiben Brot ab und goss Roten aus dem Burgund in ihre Gläser.
Er steckte einen Zipfel der Serviette zwischen zwei Knöpfen in sein Hemd, erhob das Glas und sagte: «Ein Pröstchen!»
Sie brachte ein Lächeln über die Lippen, erhob ihr Glas und sagte müde: «Ja», und stellte das Glas, ohne einen Schluck zu nehmen, wieder vor sich auf den Tisch.
Schweigend assen sie ihr Mahl.
Nachher trug sie Geschirr und Besteck vom Tisch in die Küche, spülte es, trocknete es, versorgte es in den Küchenschrank und setzte sich im Wohnzimmer neben ihn auf einen Sessel vor dem Fernsehschirm.
Er sagte: »In zehn Minuten beginnt der ‚Tatort‘. Oder möchtest Du was anderes sehen?»
«Nein. ‚Tatort‘ ist gut.»
Während des ‚Tatorts‘ schlummerte er mehrmals ein und erwachte jeweils mit einem Ruck des Kopfs und der Frage: «Was hat er gesagt?» Oder: «Ist das der Vater vom Kind?»
Später schauten sie sich noch die Spätnachrichten an. Als auf dem Bildschirm der syrische Präsident Asad erschien, sagte er: «Warum werfen die Amerikaner nicht eine Bombe auf seinen Palast? Das wäre doch einfach, oder?»
«Die haben die Hände voll in Irak und Afghanistan und weiss Gott noch wo», sagte sie. «Möchtest Du noch was trinken?»
«Gerne. Hat’s noch eine Flasche Bier im Kühlschrank?»
Sie holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, stellte die Flasche mit einem Bierglas vor ihn auf das Kaffeetischchen und nahm für sich noch ein halbes Glas Burgunder.
Als er sich zum Schlafen bereit machte und im Badezimmer die Zähne bürstete, erinnerte er sich plötzlich, dass er sie nicht gefragt hatte, wie denn ihr Tag im Büro gewesen sei.
«Wie war Dein Tag im Büro?» rief er ins Schlafzimmer. Sie lag bereits im Bett, und im Halbschlaf sagte sie leise, unhörbar für ihn:
«So wie der Abend. Einsam.»