Wir verwenden das von einem genialen Philosophen aus dem 13. Jahrhundert entwickelte Prinzip. Es wird Ockhams Rasiermesser genannt. Hat man die Wahl mehrerer Erklärungen für ein Phänomen, so wähle man die einfachste, die mit möglichst wenig Hypothesen auskommt. Wenden wir das auf die aktuelle Finanzkrise an, kommen wir zu verblüffend richtigen und einfachen Schlussfolgerungen, die zudem überprüfbar zutreffen. Denn um abzuschätzen, wie präzise eine solche Zukunftsprognose ist, wenden wir die Hypothese zunächst auf die Vergangenheit an.
Die Hypothese
Sie lautet ganz einfach: Wenn ein Finanzpolitiker, ein Eurokrat oder ein europäischer Regierungschef etwas zu einer zukünftigen wirtschaftlichen oder politischen Entwicklung sagt, dann wird das Gegenteil eintreffen. Aus dem grossen Strauss von Beispielen aus der Vergangenheit wollen wir lediglich vier Themengebiete herausgreifen, um die absolute Richtigkeit dieser Hypothese zu belegen.
Griechenland
Wir müssen nur 18 Monate zurückgehen, um zum Anfang der Überprüfung unserer Hypothese im Zusammenhang mit diesem Mitglied der Euro-Zone zu gelangen. Ende März 2010 gab es nämlich laut Aussage aller Euro-Politiker kein Schuldenproblem von Griechenland. Zumindest keines, das irgendwelche Massnahmen nötig mache. Dann gab es eines, das garantiert mit 8, 30, 120 Milliarden Euro definitiv und endgültig lösbar sei. Wobei es absolut ausgeschlossen sei, dass die Europäische Zentralbank völlig reglementswidrig selbst Griechenpapiere ankaufe. Genauso ausgeschlossen, wie dass Banken zur Bilanzstützung ihre Griechenpapiere zu vorteilhaften Bedingungen abgekauft würden. Die sich vielmehr obligatorisch, na gut, freiwillig an weiteren Griechenlandhilfen zu beteiligen hätten. Und eine Pleite Griechenlands? Undenkbar, ausgeschlossen, unmöglich. Saubere Beweisführung, es traf jedes Mal genau das Gegenteil ein.
Die Banken
Es war seit der Finanzkrise I völlig klar, dass neue Gesetze, höhere Eigenkapitalvorschriften, Verbote von ungedeckten Leerverkäufen, klare Reglemente für Hedgefonds und andere Schattenbanken, Beschränkungen von kurzfristigen und rein umsatzabhängigen Bonussystemen, persönliche Haftbarkeit von Bankbossen, die Stärkung der Rechte der Besitzer von Banken, nämlich deren Aktionäre, die Mitbestimmung der Regierungen bei teilweise oder ganz verstaatlichten Banken, die Reduzierung von systemgefährdenden Bilanzvolumen und klare Vorschriften für das Erstellen und das Handeln von Derviatekonstruktionen eine Wiederholung dieser Finanzkrise verunmöglichen würden. Selbstverständlich müssen auch Banken, die «too big to fail» sind, zerschlagen werden. So lauteten die unermüdlich wiederholten Ankündigungen in den USA und in Europa. Zweite klare Beweisführung, es ist entweder nichts oder das Gegenteil geschehen.
Der Euro
Der Euro ist sicher, der Euro ist stabil, der Euro ist sinnvoll, den 17 den Euro verwendenden Staaten geht es deswegen gut oder besser als vorher, die Europäische Zentralbank als unabhängige Hüterin der Währung garantiert das und ist vor jeglicher politischen Einflussnahme geschützt. Deshalb werden die Maastricht-Kriterien, also je eine Obergrenze für die Neuverschuldung und die Gesamtverschuldung der Euro-Staaten, strikt eingehalten oder wenn nicht, mit schmerzhaften Sanktionen belegt. Es kann alles passieren, ausser, dass ein Euro-Land aus dem Währungsverband ausscheidet, denn: «Scheitert der Euro, scheitert Europa.» Vor allem ist es absolut undenkbar, dass Griechenland aus der Euro-Zone austritt und wieder zu seiner Nationalwährung zurückkehrt. Dritte Beweisführung.
Die Demokratie
Alle europäischen Entscheidungen werden selbstverständlich in den nationalen Parlamenten oder in den demokratischen Strukturen der EU beschlossen und anschliessend kontrolliert umgesetzt. Die Troika, die Europäische Finanzstabilitätsfazilität, eine Aktiengesellschaft nach belgischem Recht, die bilaterale Ankündigung einer europäischen Wirtschaftsregierung durch Sarkozy und Merkel, unzählige Versuche, die Zustimmung zu Multimilliarden-Rettungspaketen an den jeweiligen Landesparlamenten vorbeizuschleusen, das in einer Demokratie eigentlich verbotene Unwort, dass alle getroffenen Entscheidungen wie auch immer richtig, weil «alternativlos» seien, eine in Kauf genommene Unkenntnis grösster Teile der Bevölkerung in den 27 EU-Staaten und den 17 Euro-Staaten, wer eigentlich genau wie über ihr Schicksal bestimmt: Eine vierte Beweisführung.
Die Schlussfolgerung
Die Hypothese ist an der Vergangenheit genügend überprüft und somit gesichert. Ich überlasse es dem Leser, sie auf die Zukunft anzuwenden. Er kann dafür jede beliebige aktuelle Ankündigung eines Eurokraten verwenden. Ich muss warnend auf Nebenwirkungen hinweisen, was Stimmung, Gemütslage und Optimismus betrifft. Aber das sollte man doch für die Fähigkeit, endlich in die Zukunft schauen zu können, in Kauf nehmen.