Ein kritischer Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International über Abwehrtaktiken der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Angriffe hat sehr kontroverse Reaktionen ausgelöst.
Die Leiterin des ukrainischen AI-Büros, Oksana Pokaltschuk, ist inzwischen aus Protest über fehlende Berücksichtigung ihrer Einwände von ihrer Funktion zurückgetreten. Russische Propagandisten wiederum äussern sich begeistert über den Amnesty-Bericht, wobei die Hinweise über die russischen Verbrechen in der Ukraine völlig unterschlagen werden.
Amnesty International kritisiert in einem diese Woche veröffentlichten Bericht, dass die ukrainischen Streitkräfte bei der Abwehr russischer Kriegsangriffe öfter Militärstützpunkte in Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern eingerichtet haben. Solche Taktiken, schreibt AI, verstiessen gegen das humanitäre Völkerrecht und gefährdeten die Zivilbevölkerung, weil sie zivile Objekte zu militärischen Zielen machten. «Dass sich die Ukraine in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet das ukrainische Militär nicht von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts», heisst es wörtlich in dem Bericht.
«Praktikable Alternativen» für die ukrainische Armee?
Bei ihren Recherchen hätten die Vertreter von AI Beweise dafür gefunden, dass das ukrainische Militär «in 19 Städten und Dörfern» in den untersuchten Regionen Gegenangriffe «von bewohnten Gebieten aus starteten und sich in zivilen Gebäuden verschanzten». Es habe jedoch «praktikable Alternativen gegeben, die die Zivilbevölkerung nicht gefährdet hätten – wie Militärbasen oder dicht bewaldete Gebiete». Ausserdem sei in den von AI dokumentierten Fällen «nicht bekannt, dass das ukrainische Militär die Zivilbevölkerung aufgefordert oder ihr geholfen hätte, betroffene Gebiete zu evakuieren». Immerhin wird in dem Bericht eingeräumt, dass bei der Einrichtung von Stützpunkten in Schulen im Donbass und in der Region Mykolaiv diese Schulen vorübergehend geschlossen wurden, doch «in den meisten Fällen befanden sich die Gebäude in der Nähe von bewohnten zivilen Vierteln».
In dem AI-Bericht wird zwar auch betont, die kritisierte Praxis der ukrainischen Verteidiger «rechtfertigt in keiner Weise die wahllosen russischen Angriffe» auf ukrainische Städte und Dörfer. Viele dieser russischen Angriffe «mit unterschiedslos wirkenden Waffen, einschliesslich international geächteter Streumunition» seien von Amnesty International ebenfalls dokumentiert worden.
Zornige Reaktion in Kiew
Der am Donnerstag veröffentlichte AI-Bericht ist von Seiten der ukrainischen Regierung begreiflicherweise sofort verärgert zurückgewiesen worden. Dieser Bericht suggeriere gegenüber der Öffentlichkeit die falsche Realität von einer Art moralischem Gleichgewicht zwischen dem Verbrecher und dessen Opfer, schreibt der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba in einer Stellungnahme. «Bitte hört auf mit der Schaffung einer falschen Realität, bei der jede Seite ein bisschen schuldig an etwas ist.» Was allein die ukrainische Bevölkerung bedrohe, seien die russischen Angreifer, die das Land überfallen hätten, um es zu vernichten, twitterte ein Berater von Präsident Selenskyj.
Dass kritischen Berichten von Amnesty International über Ereignisse oder Entwicklungen in einem bestimmten Land von der betroffenen Regierung widersprochen wird, ist freilich nichts Neues – was aber auch nicht bedeutet, dass die Darstellungen und Forderungen von AI prinzipiell über jeden Zweifel und Vorwurf erhaben wären. Im Falle des hier zur Debatte stehenden Berichts über die Verteidigungstaktiken der ukrainischen Streitkräfte sind es jedenfalls mehrere Fakten und Entwicklungen, die diesen Report und seine Präsentation fragwürdig oder rundheraus unangemessen machen.
Zum einen ist zumindest zweifelhaft, ob darin der grundlegende moralische und völkerrechtliche Unterschied in diesem Krieg zwischen dem rücksichtslosen Angreifer Russland und den Verteidigungsanstrengungen der militärisch weit unterlegenen ukrainischen Streitkräfte mit der notwendigen Klarheit und Insistenz hervorgehoben wird. Zwar wird erwähnt, dass die «wahllosen Angriffe der russischen Armee in keiner Weise gerechtfertigt» seien, doch meiner Ansicht nach wird die total unterschiedliche Ausgangslage zwischen den beiden Armeen und die fundamentale Verantwortung Russlands für die Tausenden von zivilen Opfern in diesem Bericht nicht eindeutig und unmissverständlich genug hervorgehoben.
Steilpass für die Kreml-Propaganda
Zum zweiten gibt es sachliche Einwände gegen die Forderung von AI, die ukrainischen Kämpfer hätten ihre Verteidigungsstellungen gegen die russischen Angriffe dort einrichten sollen, wo die zivile Bevölkerung nicht oder weniger gefährdet gewesen wäre – etwa «in Militärbasen oder in dicht bewaldeten Gebieten». Das klingt reichlich blauäugig. Die Russen haben schliesslich Städte und Dörfer direkt angegriffen, um sie zu erobern, und nicht selten eine vorherige Evakuierung der Zivilbevölkerung durch Artilleriebeschuss verhindert oder beeinträchtigt. Hätte die ukrainische Armee konsequent auf eine Verteidigung aus den Zentren der angegriffenen Städte heraus verzichtet, hätten die Russen dort ohne grössere Probleme einmarschieren können. Offenkundig haben sie schliesslich auf die Eroberung von Kiew verzichtet, weil für sie der zu erwartende Häuserkampf in der Grossstadt allzu verlustreich zu werden drohte.
Drittens schliesslich spricht die schamlose Ausschlachtung und Instrumentalisierung des AI-Berichts durch die Kreml-Propaganda gegen dessen Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt. So jubelte die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Marija Sacharowa auf Telegram: «Amnesty Inernational hat die Verstösse der Ukraine gegen das Militärrecht anerkannt. Wir sprechen immer wieder darüber und bezeichnen das Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte als Taktik, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen.» Dass AI in diesem Bericht die russische Aggression als unentschuldbar bezeichnet und in andern Berichten auch die Beschiessung ukrainischer Spitäler kritisiert hat, wird natürlich mit keinem Wort erwähnt.
Protest der ukrainischen AI-Leiterin
Das gewichtigste Argument gegen die Unangemessenheit dieses AI-Reports ist meiner Ansicht nach der Protest von Oksana Pokaltschuk, der Leiterin von Amnesty International in der Ukraine. Sie ist am Freitag, einen Tag nach der Veröffentlichung des Berichts durch das AI-Hauptquartier in New York, von ihrem Posten zurückgetreten. In einer längeren Erklärung, die von der englischsprachigen Zeitung «The Kyiv Independent» veröffentlicht wurde, schreibt die Aktivistin, sie habe sieben Jahre lang für die Menschenrechtorganisation gearbeitet. Noch am Tage der Publikation habe man ihr in der AI-Zentrale versichert, man werde den Bericht korrigieren und eine neue Version publizieren. Das habe sich als naive Hoffnung herausgestellt. Pokaltschuk betont, sie habe darauf insistiert, dass vor der Veröffentlichung des Berichts eine Stellungnahme des ukrainische Verteidigungsministeriums eingeholt werden sollte. Das Ministerium sei zwar angefragt worden, doch habe man den AI-Bericht dennoch publiziert, bevor eine solche Reaktion eingegangen sei.
Der Protest und Rücktritt der bisherigen ukrainischen AI-Leiterin spricht eindeutig gegen die Sensibilität der AI-Zentrale und deren Willen, in ihrem Bericht über die Verteidigungstaktik eines ruchlos überfallenen Landes alle relevanten Faktoren gebührend zu berücksichtigen und abzuwägen. Der Entschluss, den Bericht zu publizieren, ohne auf die Einwände der nationalen ukrainischen AI-Sektion einzugehen und ohne die selbst angeforderte Stellungnahme des Kiewer Verteidigungsministeriums abzuwarten, zeugt in diesem Fall von einem erstaunlichen Mangel an Fairness und politischem Fingerspitzengefühl. Die AI-Führung hat mit ihrem selbstherrlichen Vorgehen dem Ruf ihrer Organisation keinen guten Dienst geleistet.