Den „schlafenden Riesen des Weltfussballs“ hat Sepp Blatter den Fussballsport in Indien genannt. Schlafend? Gewiss: Indien rangiert auf Platz 154 der FIFA-Rangliste. Schlagzeilen machte das Land zuletzt 1952, als es für die WM in England Forfait gab. Grund: FIFA weigerte sich, das Team barfuss spielen zu lassen.
Der schlafende Riese bewegt sich
Aber ein Fussballriese? Das wird sich nun zeigen, da der indische Fussball endlich erwacht ist. Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen. Nicht der geringste war sicher der zunehmende nationale Frust. Kann es wirklich sein, dass ein Land dieser Grösse es nicht schafft, von ‚bemitleidenswert’ zu ‚anerkannt’ aufzurücken? Indien fliegt zum Mars, vermag aber nicht einmal Bahrain zu schlagen?
Der schlafende Riese bewegt sich nun schon seit einigen Jahren und hält seine Augen halb geöffnet. Der nationale Fussballverband hat eine landesweite Meisterschaft zusammengezimmert und hat sie bis in die dritte Saison gerettet. Das ist schon etwas, denn bisher war er vor allem dazu da, dem Staat für die Lokalen Mann- und Meisterschaften Unterstützungsgelder abzuluchsen.
In Bombay bisher nur Firmenfussball
Denn Mannschaften und Spieler gibt es durchaus, auch wenn sie eigenartigerweise auch an der geografischen Peripherie des Landes spielen – in Kolkata namentlich, und unter den Stammesstaaten im Nordosten; entlang der Malabarküste von Kerala über Goa bis Bombay. Professionell spielten bisher nur Kerala, Goa und Kolkata, letzteres mit drei Mannschaften. Eine von diesen, ‚Mohun Bagan FC’, ist die älteste Fussballmanschaft Asiens, gegründet Anno Domini 1888. In Bombay wird nur Firmenfussball gespielt.
Wurde nur Firmenfusball gespielt. Denn seit einem Monat gibt es einen ‚Mumbai City Football Club’. Am Samstag kam es in Navi Mumbai zum ersten Lokalderby, als er gegen den Pune City FC antrat. Sie taten es nicht als Teil der erwähnten Fussballmeisterschaft, sondern als zwei der acht neugegründeten Mannschaften der privaten ‚Indian Super League’ (ISL).
Beim Cricket 400 Millionen Zuschauer
Die ISL will es der ‚Indian Premier League’ nachmachen, dem lukrativsten Cricket-Turnier und drittreichsten Klubwettbewerb der Welt (nach der englischen ‚Premier League’ und der amerikanischen ‚Baseball League’). Es wird sich weisen, ob diese Schuhe etwas zu gross sind für die ISL. Schliesslich war die Gründung dieser Cricket-Liga vor fünf Jahren der Höhepunkt eines langjährigen Wachstums in einem Sport gewesen, der gut und gerne 400 Millionen Inder vor die Fernsehschirme lockt.
Ganz blauäugig können die Promotoren der ISL nicht sein. Ein Blick auf die Namen genügt, zu wissen, wie scharf sie auf Profit aus sind: IMG gehört dazu, die aggressive amerikanische Marketingfirma, Mukesh Ambani, der reichste Inder, sowie Rupert Murdoch. Dessen ‚Star Sports’ hat herausgefunden, dass nicht weniger als 131 Millionen Inder regelmässig die Übertragungen der europäischen Landesmeisterschaften anschauen.
Atletico de Kolkotta
Die Drei haben sich für zehn Jahre die Rechte gesichert. Darauf haben sie acht neugegründete Klubs unter Vertrag genommen, die im Durchschnitt 120 Millionen Rupien (knapp 1.5 Millionen Euro) pro Jahr entrichten. Dafür dürfen sie unter sich in je zwei Spielen und mit einem Halbfinal und einem Entscheidungsmatch den Meister ausmachen. Die bei weitem teuerste Lizenz (2 Millioonen Euro) war für Kolkata ausgegeben worden, denn es ist die einzige Grossstadt mit einem eingefleischten Fussball-Publikum.
Diese Mannschaft heisst ‚Atletico de Kolkata’. Neben den lokalen Haupteigentümern hat auch Atletico Madrid einen kleinen Aktienanteil gezeichnet. Dafür haben sie Namen und Klubfarben ausgeliehen, Know-how im und neben dem Feld, sowie den alternden Star Luis Garcia. Die anderen Klubs neben Kolkata, Mumbai und Pune City sind Club Chennai, FC Goa, die ‚Kerala Blasters’, ‚Delhi Dynamos’ und ‚NorthEast United’.
Weltbekannte Namen müssen her
Unter den Klub-Eigentümern findet man erstaunlicherweise nicht die alten Industriefirmen-Klubs (wie die Tatas und Mahindras), sondern Unternehmer und Unterhaltungskünstler, die der Liberalisierungsboom hochgeschwemmt hat: ehemalige Cricket-Stars wie Saurav Ganguly und Sachin Tendulkar, Bollywood-Grössen (Salman Khan, John Abraham, Ranbir Kapoor) sowie Firmen mit viel Kleingeld.
Das genügt allerdings nicht, um die Massen von den Fernsehschirmen in die Stadien zu locken. Wer kennt schon die vielen (und guten) einheimischen Spieler, mit Namen wie Subhash Singham, Zico Zoremsanga oder David Lalrinmuana? Weltbekannte Namen mussten her. So lief diesen Sommer der europäische Altspieler-Bazar auf Hochtouren. Jeder Klub sicherte sich einen oder mehrere ‚Marquee Players’, und die meisten kauften gleich noch Spiel- und Konditionstrainer ein.
Schlitzohr Sepp Blatter hilft mit
Alessandro del Piero ist der bekannteste Name, aber auch andere haben fast sicher in den Ohren einiger Indian Ocean-Leser Nostalgiewert: David Trézéguet, Nicolas Anelka, Freddy Ljungberg, der Torhüter David James. Richtig überzeugt hat bisher eher die zweite Linie von Internationalen, Spieler wie Tiago Ribeiro, André Moritz, Manuel Friedrich, Jan Stohanzl. Wie mir sind sie den meisten Indern nicht geläufig, was sich an den vielfachen Schreibweisen ihrer Namen äussert. Für Ljungberg habe ich bereits vier gefunden.
Die ISL ist nicht die Einzige, die sich am Weckruf für den Giganten beteiligt. Sepp Blatter wäre nicht das Schlitzohr, das man kennt, wenn die FIFA nicht gleich selber Hand angelegt hätte, den schlafenden Riesen wachzurütteln. Für 2017 hat die FIFA die Junioren-WM (‚U-17) nach Indien vergeben. Es macht sich immer gut, wenn man dubiose Geldquellen in Entwicklungshilfe umwandelt. Der Bau von Stadien wird subventioniert, Trainer und Schiedsrichter ausgebildet, Klub-Infrastrukturen werden aufgebaut, Nachwuchs gefördert.
Murdoch & Co. wird’s freuen. Denn es wird Jahre dauern, bis sie mit einem Gewinn rechnen können. Sportexperten sind sich nicht einmal sicher, ob dem ISL-Ball nicht schon vorher die Luft ausgeht. Namentlich stellt sich die Frage, ob die zweimonatige ‚Super-Liga’ lange genug dauert, um den Enthusiasmus der Fans über die folgenden zehn Fastenmonate wach zu halten.
Konkurrenz von der Kabbadi League
Umso mehr als die Konkurrenz nicht nur vom Grossen Bruder Cricket kommt. Noch bevor die Fussball-Ligisten in die Hosen gingen, kam ihnen aus der Tiefe des Raums plötzlich ein anderer Sport in die Quere und schnappte ihnen den Überraschungseffekt weg. Kabbadi heisst der Eindringling, ein indischer Bauernsport, eine Mischung von Rugby und American Football auf einem Feld von der Grösse eines Badminton-Courts. Die ‚Pro-Kabbadi League’ dauerte fünf Wochen und zog mehr Fernsehzuschauer an als die Fussball-WM in Brasilien.
PS: Das Lokalderby am Samstagabend wurde übrigens vom Mumbai City FC gewonnen – mit 5:0. Es war höchste Zeit, denn das erste Spiel gegen ‚Atletico de Kolkata’ war mit 3:0 verloren gegangen. Stars des Abends waren nicht Anelka und Ljungberg, sondern der Brasilianer Andre Moritz und der Manipuri Subhash Singham. Moritz erzielte einen Hattrick, Singham gab ihm die Vorlagen. Und die ‚Marquee Players’? Ljungberg kuriert einen Wadenmuskel aus, obwohl er noch keine Minute gespielt hat. Und Anelka muss eine Fünf-Spiel-Sperre der englischen ‚Football Association’ aussitzen. Falls er dachte, er könne sich hinter dem schlafenden Riesen hinter den sieben Bergen verstecken, hat er sich getäuscht.