Nach den US-Präsidentschaftswahlen haben bekanntlich nicht nur die „Intellektuellen“ und „politischen Eliten“ ihr Fett abbekommen, sondern speziell auch die demoskopischen Prognostiker und Statistiker. Hohn und Häme wurden über die modernen Auguren ausgeschüttet.
Die Lügenstatistik
Wir kennen das alte Klischee von der Lügenhaftigkeit der Statistik. Wie dümmlich es auch ist, die Ereignisse der jüngsten Zeit scheinen es zu bestätigen. Dabei schleicht sich ein neuer Ton ein. Statistik gilt als „elitär“, Experten und Analytiker werden zum Lager derer geschlagen, die über „das Volk“ hinwegschauen.
Die populistischen Attacken gegen die Experten und Technokraten speisen sich aus der gleichen Energiequelle des Ressentiments wie die Angriffe auf die politische Elite. Beide, die Analytiker des Volks und die Vertreter des Volkes, hätten den Kontakt zum Volk verloren, lautet der Vorwurf; sie wüssten nicht, wie es ist, eine Bürgerin oder ein Bürger zu sein; sie dächten im Wolkenkuckucksheim ihrer abstrakten Konzepte über Gesellschaft und Wirtschaft, in Bruttoinlandprodukt, Arbeitslosenraten, Immigrantenzahlen.
Das neue Terrain der Statistik
An dieser Kritik ist durchaus etwas dran. Das Problem ist aber nicht die Statistik. Sie kann ihrem Wesen nach nicht die konkrete Individualität berücksichtigen, sie muss abstrakt sein, insofern sie die Komplexitäten einer Gesellschaft auf ein paar quantitative Kenngrössen reduziert. Das Problem liegt zunächst einmal darin, wie der britische Ökonomiehistoriker William Davies kürzlich in einem lesenswerten Essay schreibt, dass sich sozusagen das Territorium der Statistik verändert hat. (1)
Ihre herkömmliche Grundeinheit ist der Nationalstaat beziehungsweise seine Population. Historisch gesehen spielte Statistik stets eine wichtige Rolle als offizielles Instrument zum Verständnis der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demografischen Bewegungen innerhalb eines Nationalstaats. Der wirtschaftliche Wandel durch den globalisierten Kapitalismus löst nun aber diese Einheit zusehends auf, oder genauer: Er macht die Kategorie des Nationalstaats immer weniger anwendbar.
„Globalisierung hat die Geografie nicht einfach irrelevant gemacht“, schreibt Davies. Vielmehr habe sie quasi die Geografie ökonomisch umgestaltet, „indem sie die Ungleichheit zwischen erfolgreichen Orten (London oder San Francisco) und weniger erfolgreichen Orten (Nordost-England oder dem ‚Rust Belt‘ in den USA) verschärft. Die involvierten geografischen Schlüsseleinheiten sind nicht mehr Nationalstaaten. Vielmehr sind es Städte, Regionen oder individuelle urbane Nachbarschaften, die aufsteigen oder fallen.“
Deshalb kann das Denken in nationalstaatlichen Einheiten zu Verzerrungen des Blicks führen, etwa wenn Statistiken über die ganze Nation (oder gar über die EU) aufgestellt werden, die den Binnenunterschieden nicht Rechnung tragen. Ein Erwerbsloser in einer „fallenden“ Region wird es wenig goutieren, wenn die offziellen Statistiken von einer stabilen nationalen Arbeitslosenzahl oder steigendem Bruttoinlandprodukt sprechen. Er wird das Gefühl haben, dass man ihn buchstäblich „übersieht“, und es verwundert kaum, wenn sich der Unmut aus dem Lokalen gegen die im Abstrakten schwebenden Statistiken wie eine politische Gewitterzelle aufbaut.
Die neue Statistik nimmt sich der Gefühle an
Genau dieses Register lässt der Populismus meisterlich spielen. Statistiken liefern doch nur kalte Zahlen und Daten, sagt er, ich aber nehme deine Gefühle und Stimmungen ernst. Damit wird suggeriert, man würde auf „Volkes Stimme“ hören. Aber wer diese Stimme reden hört, halluziniert und ist eigentlich reif für die Klinik. Das Gebäude moderner Demokratien braucht numerische Pfeiler. Und es sind zum Beispiel die Wählerzahlen, die klar und objektiv festlegen, wieviel Volk eine Volkspartei vertritt, und nicht das gefühlsdumpfe Geleier an der Parteiversammlung.
Was wirklich zu denken gibt, ist etwas anderes, nämlich der parallele Aufstieg von Populismus und einer neuen Art von Statistik, die sich der Gefühle annimmt. Populisten können heute den Volkszorn mit Data-Mining bündeln, also mit einer statistischen Analyse riesiger Datensätze, in denen individuelle Verhaltensweisen, Vorlieben und Meinungen erfasst sind. Damit werden ganz bestimmte Absichten verfolgt. Die Werbung bedient sich dieser Technik schon seit langem erfolgreich.
Die Fähigkeit, Einsichten über weite Teile einer Population aus Daten zu destilieren, ist eine der innovativsten Sozialtechnologien. Sie beginnt die alte Statistik zu ersetzen. Pointiert gesagt: Während die alte Statistik versuchte, das Verhalten der Bevölkerung zu beschreiben und zu erklären, sucht die neue Statistik, das Verhalten zu beeinflussen und zu lenken.
Die neue Industrie der Meinungskonfektion
Vor allem aber: Die neue Statistik verfügt mit Techniken wie „Predictive Analysis“, „Sentiment Analysis“, „Mood Analysis“ über potente Tools, aus Datenmengen direkt auf Stimmungs- und Gefühlslagen von Bevölkerungsteilen zu schliessen, Tendenzen und Vorlieben herauszuspüren, um sie gegebenfalls zu bedienen. Es gibt eine regelrechte neue Industrie der Meinungskonfektion.
„Cambridge Analytica“ zum Beispiel ist ein privates Datenunternehmen, das Mikrotargeting von Markt- oder Politikkundschaft betreibt, das heisst, Bürger aufgrund eines psychologischen Datenprofils gezielt anpeilt. Trumps Chefberater Steve Bannon sitzt im Vorstand der Firma. Cambridge Analytica habe, so hört man, während des amerikanischen Wahlkampfes diverse Riesendatenbanken verwendet, um mit Mikrotargeting an Millionen von potenziellen Trumpwählern zu gelangen. Die Technik erfreut sich wachsender Beliebtheit unter Politikern. Bereits Barak Obama soll die Wahl 2008 damit gewonnen haben.
Im Verbund mit der neuen Statistik legt sich der Populismus eine gefährliche Scheinheiligkeit zu: Vordergründig schiesst er im Namen des Volkes auf technokratische und politische Eliten; hintergründig nimmt er eine neue digitale Elite in Anspruch, mit dem Ziel, manipulative technologische Macht auf das Volk auszuüben. Wenn Eric Schmidt vom Internetriesen Alphabet sich damit brüstet, Google wisse vor dem Nutzer, was dieser will, dann äussert sich darin nicht bloss branchenübliches Werbemaulheldentum, sondern durchaus auch der Wille und die Absicht der Technologieunternehmen, ihre „Kunden“ so weit abzurichten, bis diese derart weichgespült sind, dass sie wollen, was sie wollen sollen.
Die neuen digitalen Technokraten
Die technokratischen Prügelknaben, auf die der Populismus wonniglich einhaut, sind primär Ökonomen, Soziologen, Meinungsforscher. Die neuen digitalen Technokraten sind Computerwissenschafter, Mathematiker, Physiker, meist ohne grosses Flair für soziale Fragen. Sie entziehen sich auch weitgehend der öffentlichen Kontrolle, weil sie für private Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon arbeiten.
Und genau hier geht es der Demokratie ans Lebendige. Für Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon bedeuten statistische Werkzeuge Wettbewerbsvorteile, und Wettbewerbsvorteile haben Vorrang vor der res publica. Der neue Apparat der Zahlen- und Datenverarbeitung eignet sich vorzüglich, Trends zu entdecken, Stimmungsblasen zu analysieren, politische Kundschaft in gewünschte Richtungen zu „schubsen“ – allesamt Techniken der Macht, die aber nicht der Öffentlichkeit verpflichtet sind. Facebook kann Umfragen in einer Population von Millionen von Nutzern durchführen, ohne die Resultate publik zu machen. Als das Unternehmen 2014 die Ergebnisse eines Versuchs publizierte, der zeigte, wie Facebook die Gefühle der Nutzer beeinflussen kann, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Warum sollte Facebook also überhaupt noch an die Öffentlichkeit treten?
Kampf an der richtigen Front
Demokratie wird durch solchen Daten-Obskurantismus akut bedroht. Man vergisst bei der gegenwärtigen, partiell durchaus triftigen Kritik der Statistik, dass sie einen progressiven Zug in den modernen Staat gebracht hat. Seit dem 19. Jahrhundert ersetzt sie die mehr oder weniger subjektiv gefärbte Basis von Chroniken, Anekdoten und Gerüchten durch eine numerische objektive Basis, um Regierungen ein relativ neutrales Instrument zur Entscheidungsfindung bereitzustellen. Wollte die alte Statistik der schwankenden Basis persönlicher Meinungen entgegentreten, so wird die neue Statistik jetzt ironischerweise selbst zur Handlangerin einer persönlichen Meinungsmache. Statt falsche Meinungen und Behauptungen zu korrigieren, erzeugt und stützt sie sie nun im postfaktischen Smog je nach Bedarf und Laune.
Wenn uns also am Funktionieren der Demokratie gelegen ist, dann muss der Kampf an der richtigen Front geführt werden, nicht gegen die Statistik und ihre Experten, sondern gegen ihre populistischen Verunglimpfer, welche die Statistik als „elitäre“ Strohpuppe aufbauen, um gegen sie „wahre“ Emotionen in Stellung zu bringen. Seien wir auf der Hut: Unter den Freunden des Volkes verstecken sich die wirklichen Totengräber der Demokratie.
(1) Wlliam Davies: How Statistics lost their power – and why we should fear what comes next; The Guardian, 19.1.2017