Das grösste Radrennen der Welt, die Tour de France, ist soeben beendet worden – mit einem überragenden Sieger. Genau betrachtet ist die Durchführung eines solchen Mega-Ereignisses wenig vernünftig. – Betrachtung eines Radrenn-Fans und leidenschaftlichen Velofahrers.
Die Gründe, warum man die heutigen grossen Radrennen ablehnen sollte, überwiegen die positiven Aspekte bei weitem. Es genügt, die Belastung der Umwelt zu erfassen, um den Irrsinn eines solchen Unternehmens einzugestehen. Die Anzahl teilnehmender Radfahrer steht in keinem Verhältnis zur Personenzahl des übrigen Trosses, der selbstverständlich motorisiert ist. Nebst der Armada von schweren Motorrädern, die für die Strassensicherung, für die Fernsehaufnahmen, für die Journalisten und Journalistinnen eingesetzt wird, kommen unzählige Fahrzeuge hinzu, welche die Mannschaften begleiten und während der Etappen für Verpflegung und Ersatzräder zuständig sind. An den Etappenorten warten Monstertrucks auf die Rennfahrer, in denen sie sich ausruhen und duschen können. Schliesslich muss auch die Flotte der zahlreichen Sponsoren erwähnt werden, die sozusagen als Klammer voraus- und nachfährt und unnötige Give-aways verteilt.
Ist schon der Wagenpark an der Tour de Suisse gewaltig, wird er von dem an der Tour de France weit in den Schatten gestellt. Es ist die Rede davon, dass mit den Radfahrern rund 5’000 Fahrzeuge unterwegs sind – täglich! Nebst dieser Mobilität in direktem Zusammenhang mit dem Rennen muss man noch die Transfers der Pedaleure samt Entourage zu den Ausgangspunkten der Rennen berücksichtigen, und dies geschieht selbstverständlich meistens mit dem Flugzeug.
Während der Rennen werden die Fahrer permanent mit Trinkflaschen und hoch prozessierter Nahrung in Form von Gels bedient. Auch wenn inzwischen verlangt wird, dass die achtlos weggeworfenen Bidons eingesammelt werden, muss auch hier mit einem gewaltigen Verschleiss gerechnet werden. Für jede Saison müssen die Fahrer mit neuen Rennrädern (nicht von der Stange), mit Trikots, Helmen, Schuhen usw. ausgerüstet werden. Und es braucht eine umfassende medizinische Versorgung, deren Mittel knapp unter dem Radar der Dopingkontrolle gehalten werden müssen.
Der Radsport ist insgesamt gefährlich. Wer zu Hause die Rennen regelmässig am Bildschirm verfolgt, weiss aus Erfahrung, dass Stürze an der Tagesordnung sind, dass viele trotz Schmerzen weiterfahren, dass andere wegen gravierender Verletzungen aufgeben müssen und dass es hie und da auch zu tödlichen Unfällen kommen kann – der Schweizer Gino Mäder an der Tour de Suisse 2023 und der Norweger Andre Drege an der diesjährigen Österreich Rundfahrt, um nur die letzten Opfer zu nennen.
Vielfach muss man schon von einem zynischen Kalkül sprechen, wenn bei Übertragungen zwar ständig betont wird, dass man keine hässlichen Bilder sehen möchte, gleichzeitig bei Stürzen deren Ablauf in Zeitlupe mehrfach wiederholt wird. Es sind moderne Gladiatoren, die zwar die Risiken kennen, aber aufgrund der Erwartung der Vielen nicht anders können, als Grenzen zu testen und manchmal zu überschreiten. Es sind nicht nur die halsbrecherischen Abfahrten, die einem als Zuschauer bisweilen den Atem stocken lassen, sondern auch das Fahren im Feld bei hohen Geschwindigkeiten, in dem man als Einzelner lediglich wenige Zentimeter Abstand hat.
Und da ist das ewig drohende Damoklesschwert des Dopings. Man kennt die Geschichten mit den tragischen Figuren, etwa Tom Simpson, der 1967 am Mont Ventoux nach einem tödlichen Cocktail zusammenbrach. Man kennt die Namen der Sünder, so Lance Amstrong, dem es auf mysteriöse Art gelang, siebenmal zu gewinnen, ohne bei den Kontrollen hängenzubleiben. Man dürfte kaum jemanden finden, der erfolgreich und zugleich dopingfrei war.
Die Leistungen der Spitzenfahrer an der diesjährigen Tour de France sind derart verblüffend, dass kritische Fragen in Bezug auf Verwendung von unerlaubten Mitteln nicht mehr bloss hinter vorgehaltener Hand gestellt werden. Die Grenzziehung zwischen legalen und illegalen Stoffen ist für Nichtexperten nicht nachvollziehbar. Es würde nicht überraschen, wenn die Liste verbotener Substanzen bald ergänzt werden müsste durch solche, die bis anhin erlaubt, bzw. noch nicht bekannt und somit noch nicht nachweisbar waren. Und die Karawane würde anschliessend zu neuen Ufern aufbrechen und weiterforschen.
All dies sollte im Grunde genügen, sich diesem Zirkus zu verweigern. Wenn es so einfach wäre! Wer selbst häufig mit dem Rad unterwegs ist, ist sehr empfänglich für das Virus Radrennen. Die übertragenen Bilder sind schlicht zu fesselnd, als dass man sich durch rationale Überlegungen davon loseisen könnte. Man vergisst dabei, dass man als Konsument mitverantwortlich ist, insbesondere für die gesundheitlichen Risiken der Sportler.
Die Faszination ist verbunden mit der Bewunderung für das Gerät Fahrrad, dieses geniale Vehikel, mit dem man mit reiner Muskelkraft riesige Distanzen zurücklegen kann. Jedes Jahr verliebt man sich in die neusten Modelle, an denen Techniker wie Designer herumgetüftelt haben. Welch ein Unterschied zu den klobigen Draisinen, mit denen 1818 die Ära des Radfahrens begonnen hatte. Inzwischen sind es formvollendete Kunstwerke, bei denen jedes störende Beiwerk beseitigt oder in das Innere verlegt wurde. Ohne Radrennen gäbe es diesbezüglich keine Innovationen.
Ähnlich wie bei den Skiabfahrten – eine andere halsbrecherische Sportart – wird man in den Bann der Steuerkünste gezogen, sei es im Feld oder auf einer Flucht. Euphemistisch reden die Kommentatoren von kalkuliertem Risiko, doch was daran kalkuliert ist, bleibt unklar. Vielfach radeln die Helden der Strassen, als ob es kein Morgen gebe. Das verspricht eine Spannung, der sich Velo-Afficionados schlicht nicht entziehen können.
Im Gegensatz zur Spannung bei Hollywood-Blockbustern weiss man, dass dieser Kampf um Millimeter real ist. Und trotz den Stimmen aus verschiedenen Ecken, die eine grössere Sicherheit auf der Rennstrecke fordern, ist es exakt dieser Wagemut stets an der Kante zum Abgrund, den man als Zuschauer nicht missen möchte. Bei Sprintankünften zieht es einem jede Muskelfaser zusammen, wenn man sieht, wie die Besten bei 70 km/h und beherztem Einsatz der Ellbogen auf die Ziellinie zurasen. Man schüttelt ob solcher Kamikazeaktionen den Kopf und ist doch wieder bei der nächsten Übertragung dabei.
In unserer Gesellschaft ist Leistung ein Wert und man bewundert Individuen, die weit über dem Durchschnitt stehen. Wie auch immer eine solche Leistung zustande kommt, man kann nicht anders als diejenigen zu bewundern, die zu solchem fähig sind. Geschieht nichts im Peloton, fahren alle wie mit angezogener Bremse, so wird es schnell langweilig, und die Kommentatoren werden nicht müde zu betonen, dass die Fahrer nun im Bummeltempo unterwegs seien. Steht ein schwieriger Anstieg bevor, wartet man gebannt auf den entscheidenden Angriff – und wehe, die Favoriten verweigern sich einem Kampf auf Biegen und Brechen. Was Tadej Pogacar an der diesjährigen Tour de France geboten hatte, war Unterhaltung vom Feinsten.
Und Unterhaltung möchten Radbegeisterte auch in Zukunft haben: an den olympischen Spielen in Paris, dann an der Vuelta und zuletzt an der Strassen-WM in Zürich.