Was sagen die Besucher der Berliner Gemäldegalerie, wenn sie Bruegels zwei angeketteten Affen sehen wollen, das kleine Werk aber nicht finden? Was die Prado-Besucher in Madrid, wenn der „Triumph des Todes“ des gleichen Meisters fehlt? Was, wer in Antwerpen „Dulle Griet“, in der Winterthurer Sammlung Oskar Reinhart „Die Anbetung der Könige im Schnee“, im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt das rätselhafte Bild „Die Elster auf dem Galgen“ oder in der National Gallery in London „Die Anbetung der Könige“ vermisst?
Mit rund einem Dutzend Werken besitzt das Kunsthistorische Museum Wien weltweit die grösste Gruppe von Gemälden Pieter Bruegels des Älteren. Zu ihnen gesellen sich nun 16 weitere Gemälde aus Museen in Europa und Übersee und erst noch rund 60 Zeichnungen und Grafiken. Die Besucherinnen und Besucher können in Wien gegenwärtig also (fast) den „ganzen Bruegel“ erleben. Zwei Dinge gilt es aber zu bedenken: Erstens fehlen die Werke, die für die lautstark als „Once in a Lifetime“-Ereignis angepriesene Ausstellung nach Wien transferiert wurden, in ihren Stammhäusern, zu deren prominentem Bestand sie gehören. Und zweitens: Jeder Transport alter Meisterwerke bringt Risiken mit sich. Auch wenn der Super-GAU des Totalverlustes unwahrscheinlich bleibt: Schäden durch die Bewegung der fragilen Werke und durch allzu viele Besucher liegen, auch bei hoher Sorgfalt, immer im Bereich des Möglichen. Dass die Berliner Gemäldegalerie die „Niederländischen Sprichwörter“ und die Alte Pinakothek München das „Schlaraffenland“ nicht nach Wien reisen liessen: Wer will das diesen Häusern verübeln?
Der Nutzen des „Blockbusters“?
Diese Gesamtschau ist reizvoll. Der Kunstfreund muss den Werken nicht einzeln nachreisen. Ihm wird alles serviert. Ein Beispiel ist der Vergleich der Wiener Fassung des „Turmbaus zu Babel“ mit der kleineren Version von Rotterdam, der nun in Wien möglich ist. Überdies freut das „Blockbuster“-Unternehmen über einen der populärsten Maler der Kunstgeschichte auch Tourismus-Anbieter und Souvenir-Industrie. Papierservietten mit der „Bauernhochzeit“ machen sich allemal gut.
Doch wie verhält es sich wirklich mit dem Nutzen solcher Riesen-Unternehmen? Die Wissenschaft ist für die Aufarbeitung wichtiger Detailfragen auf solche Ausstellungen kaum angewiesen. Sie hat Bruegel schon längst im Fokus. Die Spezialisten reisen ohnehin den Bildern nach; da brauchen die Bilder nicht auch noch zu reisen. Und der Laie wird die Subtilitäten wissenschaftlicher Betrachtungsweisen ohnehin kaum nachvollziehen können. Das intime Betrachten von Bruegels detailfreudigen oder gar detailversessenen erzählerischen Werken erfordert Musse und Konzentration. Doch wer findet in den stark frequentierten Museumsräumen schon die Ruhe, um den Spuren der Vorzeichnung unter der lasierend aufgetragenen Farbe nachzugehen oder um den vielen rätselhaften Details, zum Beispiel im ebenfalls enigmatischen Spätwerk „Der Vogeldieb“, auf die Spur zu kommen?
Vertiefte Auseinandersetzung
Es geht hier nicht um Argumente gegen derartige Grossunternehmen des Ausstellungswesens, wohl aber darum, bei aller Freude über die Begegnung mit den Kinderspielen, Bauerntänzen und Jahreszeiten-Bilder die damit verbundenen Probleme und die Widersprüchlichkeiten solch kulturpolitischer Grossdemonstrationen zu artikulieren. Bei allem Problembewusstsein gilt jedoch: Der Besuch der Wiener Bruegel-Ausstellung kann für sehr viele Besucherinnen und Besucher zum grossartigen Kunst-Erlebnis werden, und tatsächlich wird sich kaum je wieder Gelegenheit zu solch breiter Übersicht über das Werk Pieter Bruegels bieten.
Möglich ist durchaus auch, dass die Ausstellung – und das wäre ihre erfreuliche positive Wirkung – über den Besuch hinaus zu vertiefter Auseinandersetzung mit Bruegels Kunst anregt. Sie ist wohl populär, aber wegen ihrer Komplexität und der Schwierigkeit ihrer Bilddeutungen oft auch missverstanden. In der Ausstellung selber ist trotz guter, aber knapper Saaltexte nicht allzu viel Hintergründiges zu erfahren. Manch ein Besucher wird vielleicht und hoffentlich neben der Begegnung mit den Originalen zur Literatur greifen, wie sie heute kompetent und zahlreich vorliegt.
Es muss nicht unbedingt die neue, 200 Franken teure und 500 Seiten dicke Publikation des Taschen-Verlags sein. Ausserordentlich informativ ist zum Beispiel die Bruegel-Biographie von Christian Vöhringer, die sich ausführlich auch dem allgemeinen historischen Umfeld – in den Niederlanden des 16. Jahrhunderts besonders konfliktreich – sowie mit wirtschaftlichen Aspekten und mit dem Kunsthandel auseinandersetzt (Reclam-Verlag, 2013). Höchst spannend ist auch Jürgen Müllers weit ausgreifende Publikation „Das Paradox als Bildform – Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä.“ mit ausführlicher Darstellung der religiösen und religionspolitischen Dimension des Werkes in der Zeit konfessioneller Kontroversen. Müller diskutiert auch verschiedene Hauptwerke Bruegels und die ganz unterschiedlichen Deutungen, die in der Kunstgeschichte zirkulieren. (Wilhelm Fink Verlag, 1999) Wer detaillierte Informationen über die ausgestellten Werke sucht, greife zum Ausstellungskatalog.
Sensationell: Zeichnungen und Grafik
Ein Fazit: Die Ausstellung über Pieter Bruegel im Kunsthistorischen Museum Wien wird wohl einmalig bleiben. Sie kann trotz – wegen des Publikumsandranges – schwieriger Bedingungen für die Besucher zu einem vertieften Blick auf ein vielseitiges, in manchen Teilen geheimnisvolles Werk des Künstler anregen, der weit mehr ist als der drollige „Bauern-Bruegel“ und Maler der „Wimmelbilder“.
Ein Hauptverdienst des Gross-Unternehmens ist die Präsentation der vielen eigenhändigen Zeichnungen des Künstlers und der vom Verleger Hieronymus Cock vertriebenen Kupferstiche nach seiner Vorlage. Die Blätter eröffnen einen wunderbaren und nur schwer zu ergründenden kultur- und ideengeschichtlichen Kosmos. Diesen Werken ist schon aus konservatorischen Gründen selten und vor allem nicht in dieser Ausführlichkeit zu begegnen: Die Anstrengungen des Museums zeitigten da ein geradezu sensationelles Resultat. Dass der grosse Besucherandrang ein Detail-Studium dieser kleinformatigen Blätter nicht gerade erleichtert oder gar verunmöglichen kann, sei aber nicht verschwiegen. Gut tut, wer sich online sein Zeitfenster bereits um zehn Uhr reservieren lässt.
Wien, Kunsthistorisches Museum. Bis 13. Januar. www.khm.at