Die Qual der Wahl beglückt den Besuch der Michael Golz gewidmeten Ausstellung vom ersten bis zum letzten Schritt. Auf der «Reise ins Athosland» verlangen die Bilder und die Worte gleichzeitig und nachdrücklich die Aufmerksamkeit. Die bunten Farben springen in die Augen, die skurrilen Begriffe begehren lächelnd die Enträtselung.
Vom «Breitspurmonster» ist es noch nah bis zur Auflösung als «kastenförmige LKWs mit Panzerrädern», auch einigermassen von den «Bübsfabriken» zu «Fabriken mit Schloten, aus denen stinkende, dunkle Rauchwolken kommen». Aber «ULU-Wurstköpfe» oder «Teufels-ö-Ifiche» entstammen unentschlüsselbar einer wortschöpferischen Fantasie. Erstere sind todbringende Monster, zweitere «Rööh» und «üwü» ausstossende Despoten, die «vor Bosheit glühen». Und all diese Wesen leben gemeinsam mit «Hätschelomas», «Strumpfkindern» und «Lethagern» im «Athosland» mit seinen «Breitspurmonstern», «Bübsfabriken», «Wrobbelstrassen» und «Hea-Ho-Häusern».
Die von Michael Golz erdachte Welt ist bizzar, furchterregend, idyllisch und überbietet mit dem bedingungslos gewährten Grundeinkommen jenes, über das wir am 5. Juni abstimmen, ums Mehrfache.
Faszinierende Vogelperspektive
Kernstück der Ausstellung, die erstmals einen repräsentativen Einblick ins von der Fantasie kühn beflügelte Schaffen des Künstlers gestattet, ist die laufend aktualisierte und auf dem Museumsboden ausgelegte geografische Karte von Athosland. Sie umfasst Hunderte von zusammengefügten Einzelzeichnungen in Farbe und bedeckt eine Fläche von beinahe 250 Quadratmetern.
Wir sehen detailgenau die Hauptstadt Athos, die Städte Honne und Kindermann, die Kurorte Bad Martin und Bad Hartwich und das Dorf Lamour. Sie sind mit Strassen, Eisenbahnlinien und Flüssen verbunden und durch unberührte Landstriche getrennt, verfügen über Riegelhäuser und Hochhäuser, Ladengeschäfte, Bars und Strandbäder. Auch ein Flugplatz fehlt nicht, den Michael Golz kürzlich an einen neuen Standort verschob und erweiterte.
Über einen vom Museum gebauten Steg ist die Karte begehbar und ermöglicht die Erkundung aus der Vogelperspektive. Noch und noch tauchen einladende Landungspunkte auf.
Fabelhaft und fabulös
Michael Golz bereist sein Athosland regelmässig. Die Erlebnisse hält er zeichnend und beschreibend fest und sammelt die Blätter in Ordnern unter der Bezeichnung «Ifichen Mem's Ferien Mappen».
Die Lektüre der Berichte ist köstlich und schauerlich und vermittelt Abenteuer mit den meist bahn- und autofahrenden Athos-Bewohnern, den «Engstlichzähnen», «Brucktieren» und «Putzviechern», die sich mal bedrohen, mal retten und ständig dafür sorgen, dass der Teufel los ist und kein Stein auf dem anderen bleibt.
Das fabelhafte und fabulöse Athosland funktioniert modern und nimmt noch Utopisches vorweg. Die Bewohner sind von Geburt an alleswissend, lassen an ihrer Stelle Roboter arbeiten, verfügen über unbeschränkte Zahlungsmittel und können per Knopfdruck ihre Verstorbenen ins Leben zurückrufen. Die Bahnen verkehren nach einem dichten Fahrplan pünktlich und garantiert unfallfrei. Die Autos sind computergesteuert. Höchsten Freizeitkomfort bieten die Schwimmbäder.
Kunst als Befreiung
Der 1957 in München geborene Künstler lebt in zwei Welten. Sein Traumland Athos ist besser zu verstehen in Kenntnis seiner alltäglichen Umgebung in Mülheim an der Ruhr. Michael Golz erlitt in seiner Kindheit als Folge einer Pockenschutz-Impfung eine Gehirnschädigung. Eine Internatsschule für geistig Behinderte förderte seine kreative Veranlagung.
Er wurde Gärtner, verlor die Freude an diesem Beruf und verlegte sich ganz aufs Zeichnen. Die Berliner Galeristin Alexandra von Gersdorff-Bultmann entdeckte die grosse künstlerische Begabung, für die er – betreut in einer eigenen Wohnung – mit aller Kraft lebt.
Von Sorgen und Ängsten, die Michael Golz bedrücken mögen, ist Athosland frei. Er erschuf es und gestaltet es um. Sein Wille geschieht. Die farbigen Stifte sind das Zepter.
Die Ausstellung ist das wunderbare Manifest eines befreienden Akts. Der Katalog mit vorzüglich lesbaren Beiträgen von Markus Landert und Christiana Jeckelmann und als Bilderheft von Urs Stuber raffiniert gestaltet ist der ideale Reiseführer durch ein ideales Land.
Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen, bis 30. Oktober 2016