Wie erklärt sich dieser gewaltige Stimmungsumschwung in nur fünf Monaten? Im Juni hatte Erdoğans regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 40,8 Prozent der Stimmen erhalten. Jetzt, am 1. November, sind es fast 50 Prozent – 8,5 Prozent mehr. Wie ist das möglich?
Eine Analyse zeigt, dass die AKP ihre Machtbasis vor allem auf Kosten der pro-kurdischen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) und der rechts stehenden „Nationalistischen Bewegung“ (MHP) ausgebaut hat. Die MHP-Nationalisten verloren am meisten Stimmen an Erdoğans AKP.
Nationalistische Rhetorik
Keine Stimmen verlor die grösste Oppositionspartei an die AKP. Die kemalistische „Republikanische Volkspartei“ (CHP) konnte ihre Stellung halten und sogar leicht ausbauen. Unter der neuen sozialdemokratisch orientierten Parteiführung präsentiert sich die CHP als berechenbare Partei.
Hauptleidtragende des AKP-Sieges sind also die pro-kurdische HDP und die nationalistische MHP. Beides sind radikale Parteien: die eine steht sehr links, die andere sehr rechts. Beide pflegen eine nationalistische Rhetorik. Die HDP ist die Partei „der Kurden“. Umgekehrt präsentiert sich die MHP als „Partei der Türken“. Während des Krieges in den kurdischen Gebieten (Kurdistan) in den 80er Jahren führte die MHP eine scharfe Kampagne gegen die eher sozialistische HDP. Jetzt sitzen MHP und HDP, die Feinde von einst und jetzt, im gleichen Boot, im Boot der Verlierer.
Seit Juni herrscht Kriegszustand
Die türkischen Medien erklärten nach den Wahlen, das türkische Volk habe die beiden Kriegsparteien bestraft. Demgegenüber sehen die westlichen Medien den Hauptgrund für den AKP-Sieg darin, dass es Erdoğan gelungen ist, einen künstlichen Kriegszustand zu schaffen.
Tatsächlich herrscht in der Türkei seit den Wahlen im Juni ein Kriegszustand. In den kurdischen Städten wurden täglich PKK-Kämpfer, Polizisten, Soldaten, aber auch Zivilisten getötet. In Suruç an der Grenze zu Syrien, kamen im Juli bei einem Selbstmordanschlag 32 Menschen ums Leben. Kaum ein Tag verging, ohne das Parteibüros angegriffen oder gar angezündet wurden. In Ankara rissen Selbstmordattentäter im Oktober 102 Menschen in den Tod.
Abgestrafte Pol-Parteien
Die politischen Gegner machten sich gegenseitig für den Kriegszustand verantwortlich – und versuchten, von ihm zu profitieren. Die AKP wollte mit dem Kampf „gegen den Terrorismus“ Stimmen gewinnen. Auf der anderen Seite wollte sich die HDP in einer Opferrolle profilieren. Und die nationalistische MHP, die Partei „der Türken“, gilt als Kriegstreiberin gegen die Kurden.
Jetzt haben die Wählerinnen und Wähler deutlich gemacht, dass sie diesen Kriegszustand nicht gutheissen. Vor allem die beiden Pol-Parteien, die linke HDP und die rechte MHP wurden offenbar für die Unruhen und den Terror verantwortlich gemacht und abgestraft.
Angst in der Bevölkerung
Profiteur war die AKP. Angesichts des Terrors, der Unsicherheit, der Instabilität und der Angst der Bevölkerung konnte sich die AKP als verantwortungsvoller Akteur des Friedensprozesses aufspielen.
Doch der Erfolg der AKP beruht nicht allein auf dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und Stabilität. Die klassisch konservativen Muslime machen nicht mehr als 15 Prozent der Bevölkerung aus. Nimmt man noch ihre Frauen dazu, kommt man auf 22 Prozent. Doch Erdoğans Partei eroberte jetzt fast 50 Prozent.
Keine konservativ islamische Partei
Wer wählte denn neben den Muslimen noch die AKP? Bei den vorangegangenen Wahlen im Juni verlor Erdoğans Partei wegen Korruptionsaffären zahlreiche ihrer angestammten Wähler. Viele von ihnen konnten jetzt offenbar zurückgewonnen und mobilisiert werden.
Doch ebenso wichtig ist: Entgegen der weitverbreiteten Annahme ist die AKP keine konservativ islamische Partei. Es handelt sich vielmehr um ein hochprofessionell gesteuertes Bündnis, das hauptsächlich von mittleren und kleineren Unternehmen getragen wird. Es ist der rational kalkulierende mittelständische Unternehmer in Konya, Kayseri, Adana, Bursa, Istanbul, Eskisehir, der die AKP trägt. Der Westen hat oft falsche Vorstellungen von Erdoğans Partei. Zwar sind konservative Muslime auch dabei, aber sie bilden nur eine Minderheit.
Heterogenes Sammelbecken
Im Gegensatz zu allen andern Parteien ist die AKP keine ideologische Partei im klassischen Sinn. Die CHP, die sozialdemokratische Oppositionspartei, gilt als die Partei der Kemalisten, die MHP ist die Partei der Nationalisten und die HDP die Partei der Sozialisten und Kurden.
Die AKP hingegen ist ein völlig heterogenes Sammelbecken, bestehend aus Islamisten, Kapitalisten, Nationalisten und Gegnern der Kemalisten. Viele der Parteigänger sind für Europa, viele sind dagegen. Dank dieser breiten, weitgefächerten Machtbasis konnte die AKP gegen die Eliten der Gülen-Bewegung vorgehen, ohne ihre Basis zu verlieren.
Nicht die islamischen Grundsätze stehen im Vordergrund, wenn Türkinnen und Türken die AKP wählen. Ausschlaggebend sind sozio-ökonomische Überlegungen. Radikaler formuliert: Wer die AKP wählt, verzichtet auf Ideologie. Insofern ist die AKP eher eine Bewegung als eine Partei mit stabilen Strukturen. Gerade diese geistige, wirtschaftliche und soziale Mobilität ist die Ursache für ihre Stärke.
Mit Erdoğan ist vermehrt zu rechnen
Nach diesen Wahlen wird die AKP wohl noch autoritärer auftreten als bisher. Sie wird versuchen, ihre Alleinherrschaft mit allen Mitteln durchzusetzen. Erdoğan wird das Land weder nach streng demokratischen noch nach rechtsstaatlichen Normen führen. Er wird hauptsächlich sein Charisma einsetzen. Der Friedensprozess mit den Kurden wird stärker denn je von seinen Launen abhängen.
Die türkische Wirtschaft wird aufblühen. Dank den sicheren, stabilen und verlässlichen Rahmenbedingungen wird sie neue Investoren finden. Die türkische Lira hat sich schon gegenüber dem Dollar erholt.
Aussenpolitisch wird die Türkei mehr und mehr aktiv werden und – neben Iran, Saudi-Arabien, Israel und Pakistan – ihren Einfluss geltend machen und eine kritische Rolle spielen. Mit Erdoğan ist auch aussenpolitisch vermehrt zu rechnen.