Das vielbemühte Volk hat im Juni 2013 die SVP-Initiative für die Volkswahl des Bundesrats mit 76,3 Prozent hochkantig abgelehnt. Diese Niederlage (wie manche andere) stört diese Partei überhaupt nicht, weil sie mit solchen Vorstössen in jedem Fall ihre Anhängerschaft ausbaut. Gleich verhält es sich mit den SVP-Nominationen für die anstehenden Bundesratswahlen. Und da dürfen wir ja auch ein wenig mitwählen bei den verschiedenen on line-Umfragen.
Die Besetzung des zweiten SVP-Bundesratssitzes wurde von dieser Partei – medial stark, ja überstark begleitet – zu einem helvetischen Grossthema gemacht und landesweit als eine Übung aufgezogen, in der von unten nach oben Kandidaturen angemeldet werden konnten. Dies mit dem Ergebnis, dass die angestrebter Zweiervertretung weitestgehend anerkannt und es nur noch eine Sache des „Tickets“ ist, das heisst der von der SVP-Fraktion offiziell ins Rennen geschickten Kandidaturen. So weit so gut – oder so schlecht. Die Tatsache nämlich, dass die SVP-Parteibestimmungen die Wahlfreiheit der Bundesversammlung verfassungswidrig einschränken, indem sie einen automatischen Parteiausschluss für „wilde“ SVP-Kandidaten statuieren, wurde so zur Nebensache.
Umso wichtiger ist die Zusammensetzung des von der SVP diktierten Dreierpakets (alphabetisch: Aeschi, Gobbi, Parmelin). Entweder sind nicht alle Vorschläge gleich ernst gemeint und zum Teil bloss Spielmaterial für Symbolpolitik, die für sich scheinheilig in Anspruch nimmt, alle drei Landesteile berücksichtigen zu wollen. Oder jeder der drei Vorschläge ist als wirklich ernst gemeint einzustufen. Also auch die Nomination von Norman Gobbi, dem Mann aus dem Tessin.
Nationalrat Adrian Amstutz, SVP-Truppenchef, hat denn auch verkündet, dass alle drei offiziell vorgeschlagenen Kandidaten einen „tadellosen Leumund“ hätten und ein Herr Gobbi dem Bundesrat „gut täte“. Zwar nur bezogen auf den Flopp-Vorschlag vor vier Jahren mit dem Delinquenten Zuppiger erklärte Amstutz, die aktuellen Kandidaten hätten „keine Geschichten“ am Hals und da könne man „noch so graben“. Im Falle Gobbis muss man aber gar nicht graben, sein schändliches Vorleben ist allgemein bekannt – und stört nicht. Nicht nur die SVP nicht, leider auch manche Stimmen aus dem bürgerlichen Lager nicht.
Vor Gobbis Tessiner Herkunft sollen dessen persönliche Eigenschaften in den Hintergrund treten, ja sie sollen, da es um die Vertretung der italienischen Schweiz geht, sozusagen irrelevant sein. Das Tessin ist seit 16 Jahren, das heisst seit dem Rücktritt Flavio Cottis, nicht mehr im Bundesrat vertreten. Das ist an sich tatsächlich nicht gut, und gerade darum (neben der Belastungsfrage) müsste das schweizerische Regierungskollegium eigentlich auf neun Sitze erweitert und eine solche Erweiterung mit einer festen Tessiner Vertretung verbunden werden.
SP-Nationalrätin Marina Carobbio hält dem Spiel mit Gobbi jedoch deutlich entgegen: „Es genügt nicht, Tessiner zu sein.“ Leider ganz anders, wenn auch nur aus taktischen Überlegungen, verhalten sich bürgerliche Spitzenpolitiker dieses Kantons. Sowohl Nationalrat Ignazio Cassis (FDP, jetzt sogar Fraktionschef) als auch Nationalrat Fabio Regazzi (CVP) lassen sich in den Medien als Befürworter und Supporter der Kandidatur Gobbis zitieren. Muss man das als Tessiner sozusagen automatisch mittun, auch wenn man es vielleicht gar nicht so meint?
Die Tessiner CVP-Leute, insbesondere Filippo Lombardi (ebenfalls Fraktionschef) werden Gobbis Wahl nicht unterstützen, weil sie die Chance einer Tessiner Vertretung erst beim Rücktritt von Bundesrätin Doris Leuthard (bekanntlich CVP) wahrnehmen wollen. Der Lega-Lokalheld aus der Leventina dürfte in Bern ohnehin keine Chancen haben. Dass er aber auf dem offiziellen Ticket steht und halbwegs als schweizerischer Staatsmann überhaupt in Betracht gezogen wird, zeigt, was die SVP dem Lande alles zumutet und was sich die bürgerliche Schweiz halbwegs gefallen lässt.
Zum einen muss sich die Eidgenossenschaft offenbar gefallen lassen, dass das diktierte Wahlangebot einzig nach dem Prinzip der Machterweiterung ausgesucht wird und nicht nach Überlegungen, was für das Land gut ist. Schamlos verkündete der SVP-Fraktionspräsident, dass sie deshalb einen Zusatzbundesrat aus der lateinischen Schweiz wollen, weil die parteipolitische Wachstumsstrategie in diesen Teilen der Schweiz dies erfordere. Indem man Gobbi als Bundesratskandidaten präsentiert, betreibt man die Stärkung der im Tessin ohnehin schon übermächtigen Rechten, vielleicht sogar eine Hochzeit mit der Lega.
Das ist derart prioritär, dass die rechtsnationale Bundesratspartei nicht davor zurückschreckt, ein kleines Ungeheuer auf die Vorschlagsliste zu setzen. Der Nominierte darf zwar im Moment auch Präsident der Tessiner Kantonsregierung sein und dem Polizeidepartement vorstehen, was viel aussagt über den schlechten Zustand dieses Kantons. „Super-Norman“ hat seine Polit-Karriere mit groben Ausfällen gegen Flüchtlinge, gegen Bern, gegen das italienische Nachbarland gemacht. Seine billige Popularität hat er zudem auch mit wüsten Bildern im Lega-Blatt „il Mattino della Domenica“ gepflegt. Eines zeigt ihn zum Beispiel als Wächter mit Schäferhund vor einem guantanamo-ähnlichen Gefängnis, in das er die Asylsuchenden am liebsten einsperren würde. Offenbar ein idealer Nachfolger für die jetzige EJPD-Chefin Sommaruga, die sich die Rechte in ein anderes Departement oder am liebsten ins Pfefferland wünscht. Soll die Lega nun auch in der schweizerischen Landesregierung ankommen?
2008 wurde Gobbi wegen seiner rassistischen Diffamierung eines schwarzen Eishockeyspielers vom Verband mit einer Busse von 2000 Franken belegt. Gobbis billige Rechtfertigung: Er sei inzwischen älter geworden und wähle heute seine Worte bewusster. Das wird in Pressekommentaren einzig mit Feststellung quittiert, dass gewisse Äusserungen „grenzwertig“ gewesen seien und es sich eben um einen „wuchtigen Tessiner“ handele. Der zum „Staatsmann“ mutierte Gobbi ist inzwischen vorsichtiger geworden, er kann sogar politisch korrekte Auftritte vor Integrationsbeauftragten hinkriegen. Im Kern dürfte er aber der gleiche Mensch geblieben sein. Anders und doch gleich war die von ihm eingeführte schikanöse Einführung von obligatorischen Strafregisterauszügen für Grenzgänger, eine rechtswidrige Massnahme, die inwischen wieder ausgesetzt werden musste.
Norman Gobbi wäre übrigens nicht der erste Bundesrat, der sich auf seinem Weg nach oben mit „Negersprüchen“ profiliert hätte. Das hat sich auch ein Ueli Maurer im Jahr 2003 geleistet. Selbst wenn die „wilden Kerle“, einmal oben angelangt, milder würden, fragt sich, ob diese Art von Karriereweg nachträglich in ermunternder Weise honoriert werden soll. Für die SVP-Gremien ist Gobbis Vorleben offensichtlich kein Problem. Und für die hohe Bundesversammlung?
Die Bereitschaft, diese Art von „Jugendsünden“ zu akzeptieren, ist wesentlich grösser als Jugendsünden ganz anderer Art auf der linken Seite des Politspektrums: Gegen die Genfer SP-Nationalrätin Christiane Brunner, die als zweite Bundesrätin nach Elisabeth Kopp im Gespräch war, gab es viele Vorbehalten, weil sie Frauenrechtlerin, Gewerkschafterin, Raucherin, eine „Blondine mit keckem Auftreten“ und angeblich kompromittierbar mit Nacktbilden aus früheren Jahren war. Sie hatte im ersten Wahlgang vom März 1993 immerhin noch 101 Stimmen erhalten, war aber erledigt. Und einem Walther Bringolf, Präsident der SPS und 1959 offizieller, jedoch erfolgloser Bundesratskandidat, wurde unter anderem zum Verhängnis, dass er über ein Vierteljahrhundert zuvor Kommunist gewesen war, was in der Schweiz offenbar gravierender ist, als Rassist zu sein.
Wichtig für das Land ist gewiss, wer schliesslich gewählt wird. Nicht unwichtig ist dennoch der Nominationszirkus, der der Wahl vorausgeht. Er ist ein Ernstfall eigener Art. Der Skandal ist weniger Gobbi selber als die Partei, die ihn fröhlich und bedenkenlos meint vorschlagen zu können, nachdem sie ihn ein paar Tage zuvor zum Parteimitglied gemacht hat, was übrigens auch ein Beweis dafür ist, wie autoritär diese Partei fuhrwerkt.
Der ehemalige Spitzendiplomaten Thomas Borer erinnerte uns kürzlich daran, dass Bundesräte heutzutage ihr Amt zu einem wichtigen Teil auch im Ausland oder im eigenen Land bei Begegnungen mit ausländischen Gästen wahrnehmen müssen. Zwar nicht gegen Gobbi gerichtet, mahnte er, es sei „an der Zeit“, bei Bundesratswahlen neben den harten, gesetzlichen Mindestanforderungen (wie das Alter von 18 Jahren) unter den Softfaktoren auch zu bedenken, ob ein Magistrat „internationales Format“ hat. Verständlicherweise steht die Frage im Vordergrund, ob ein vorgeschlagener „Landesvater“ (auch in weiblicher Variante) der eigenen Bevölkerung zumutbar ist. Wenn die arme Schweiz bei dieser Frage aber nicht die nötigen Bedenken aufbringen kann, müsste sie sich im Sinne einer letzten Chance zusätzlich einen Moment lang überlegen, ob man einen solchen Kandidaten an Besprechungen und Verhandlungen im Namen der Schweiz ins Ausland schicken könnte.
Schon wieder Rücksicht auf das Ausland? Sollen „wir“ uns tatsächlich von „den anderen“ sozusagen vorschreiben lassen, wer sich in unserem Land auf einen Regierungssessel setzen darf? Die Vorstellung, wie ein solcher Jemand „draussen“ ankäme, wäre indessen bloss ein Test, ob wir einen Politiker nicht nur in parteilicher, sondern charakterlicher, also einfach in persönlicher Hinsicht als Repräsentant der Schweiz in der Welt für valabel halten. Es geht um mehr als nur um das „Säulihalten“ an der St. Galler OLMA oder das Bestaunen von Novitäten am Genfer Autosalon.
PS: Es ist ein trauriger Zustand, wenn ein Blatt der Nordwestschweiz (nicht die BaZ) zu der von der SVP servierten Ausgangslage nur zu titeln weiss: „Jetzt wird das Rennen doch noch spannend“. Sind wir eigentlich bei irgend einem Final irgend eines der viel zu vielen Tennisturniere?