Der erste der zusammengebrochenen Nahost-Staaten ist Somalia, der zweite heisst Libyen, der nächste wird Jemen sein, der vierte Afghanistan, dann kommen möglicherweise Syrien, der Irak, Saudi-Arabien, Ägypten – und vielleicht weitere.
Stämme und Nationalstaaten
Die vier zuerst genannten sind Stammesgesellschaften. Das heisst, die Ordnung der Stämme hat in ihnen stets eine hervorragende Rolle gespielt. Soweit sie Nationalstaaten waren, wurden sie dies, weil die äussere Welt, die nationalstaatlich geordnet war, eine Zeitlang durchgesetzt hatte, dass auch sie sich als Nationalstaaten organisierten: zentralisiert mit einer Hauptstadt, der dortigen Bürokratie und Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen. Es gab vorübergehend auch eine nationale Armee, und aus ihr ging ebenfalls vorübergehend ein Starker Mann hervor, der in der Hauptstadt regierte. Wenn die Armee sich spaltete, zerfiel der Nationalstaat, und der Starke Mann kam zu Fall.
Doch die zerfallenden Staaten konnten nicht in die reine Stammeswelt zurückkehren. Die Aussenwelt sorgte dafür, dass der Anspruch auf einen Staat erhalten blieb, obwohl er eingestürzt war. Die Wirtschaften dieser improvisierten Staaten waren – mit Hilfe und unter Gewinnbeteiligung der Aussenwelt – über die Wirtschaft von Stämmen hinausgewachsen. Die Bevölkerung war so dicht geworden, dass sie nicht mehr aufgrund einer blossen Stammesökonomie leben konnte und auch nicht mehr leben wollte. Sie erhob Anspruch auf „gehobene“ Lebensformen, die sie primär über das Fernsehen kennen gelernt hatte.
Nach dem Zusammenbruch: Religion
Die Einzelheiten waren in einem jeden Fall unterschiedlich. Doch nicht so sehr, dass nicht immer wieder Parallelen erkenntlich wären. Eine übergreifende Erscheinung ist die Bedeutung der Religion.
Wenn der Staat zusammenbricht, bleibt diese als Kraftfeld, das die Massen zum Handeln motivieren kann, und zwar über die Familien- und Stammeszusammenhänge sowie über die lokalen Landsmannschaften hinaus. Dabei kommt nicht einfach die Religion, sondern eine bestimmte Form derselben zur Wirkung. Man kann sie als die fundamentalistische Variante des Islams beschreiben. Warum gerade diese? – Weil der zusammengebrochene Staat (und schon vor ihm sein sich auflösender Vorläufer, der aus fremden Zusammenhängen hervorgegangene, versuchsweise und provisorisch existierende Nationalstaat) nach einem festen Halt rufen.
Liberalere, humanere Formen der Religion sind mehrdeutig; es ist aber Eindeutigkeit gesucht. Die Rückkehr zu angeblichen Fundamenten der Religion als leitende Doktrin erlaubt es, solche Eindeutigkeit zu konstruieren: „So und nicht anders sollst Du leben, wie es das Vorbild der Gründerfiguren verlangt!“ Unvermeidlich wird eine dermassen verstandene und verwendete Religion zum politischen Instrument in der Hand derer, die den Takt vorgeben, indem sie das Vorbild definieren und interpretieren, auf das alle sich zurückbeziehen und sich abstützen sollen. Das Instrument Religion schafft den grossen sicheren Zusammenhang – gerade auch dort, wo der staatliche Rahmen zerbricht.
Dilemma der Modernität
Doch solche auf fundamentalistischem Religionsverständnis beruhende Gesellschaftsentwürfe sind unmodern. Sie widersprechen Grundideen der Aufklärung, auf denen die Wirksamkeit „moderner“ Gemeinschaften aufbaut. Die fundamentalistischen Machthaber können keine Freiheitsrechte zulassen, wenn sie ihre Macht erhalten wollen, in erster Linie nicht das Recht, das Konstrukt ihrer religiös untermauerten Politik zu hinterfragen.
Schon die geringste Auflehnung gegen eine Ordnung, welche die Machthaber als geheiligt definieren und dekretieren, bildet für sie eine unerträgliche Herausforderung und Gefahr. Sie unterscheiden nicht zwischen Äusserlichkeit und Essenz, wenn es um ihre behauptete Rückkehr zu den Anfängen geht. Dies „heiligt“ die Äusserlichkeiten, wie den Bart für die Männer, den Schleier für die Frauen, und macht sie obligatorisch für alle.
Doch die „Moderne“ ist nun einmal da, im In- und im Ausland. Sie kann nicht ignoriert werden, weder als Ideenwelt noch als wirtschaftlicher Imperativ. Im materiellen Bereich lassen sich Aspekte der Moderne kaufen; sie werden importiert und imitiert. Aus eigener Kraft kann die Moderne jedoch nicht verwirklicht werden, solange sie der Gedankenfreiheit entbehren muss.
Durch Freiheit bedroht
Fundamentalistische Machthaber stehen mit der Grundhaltung der Moderne gezwungenermassen auf Kriegsfuss. Sie müssen Gewalt einsetzen, wenn sie verhindern wollen, dass Gedankenfreiheit ihre Machtgrundlagen in Frage stellt. Die Gewalt wird ins Innere gerichtet gegen Personen und Gruppen, die „modern“, das heisst gemäss den Ideen der aus der Aufklärung hervorgegangenen Welt leben wollen. Für sie gibt es Zensur und Gefängnisse.
Die Gewalt wird aber auch nach aussen gerichtet in einer Art offensiver Verteidigung der eigenen fundamentalistischen Position. Die Existenzberechtigung anders denkender Gruppen muss verneint werden, wenn nötig und nicht anders möglich durch Bombenanschläge gegen sie und ihre Gesellschaften.
Konflikt mit „westlichen“ Ideen
Die aufgeklärten Gesellschaften werden von islamistischen Fundamentalisten deshalb als aggressiv empfunden, weil sie es gegenüber fundamentalistischen Machthabern tatsächlich sind. Sie gehen darauf aus, ihre „westlichen“ Grundideen, die ihnen als Menschenrechte gelten, weltweit auszubreiten und durchzusetzen. Wenn fundamentalistische Gruppen gewalttätig werden (nicht alle sind es), sehen sie selbst ihre Gewalttätigkeit als Verteidigung an, weil sie sich von allen Nicht-Fundamentalisten und deren Anliegen und Belangen angegriffen fühlen.
In dem Spannungsfeld zwischen „westlicher“ Moderne und Rückkehr zum angeblich wahren Islam werden Kriege geführt, die den Zusammenbruch der gebrechlichen Nationalstaaten vorantreiben und ihren Wiederaufbau erschweren, wenn nicht verunmöglichen. Solche Kriege können von aussen ausgelöst werden, wie zuerst in Afghanistan, oder eine ausländische Komponente aufweisen, wie heute in Jemen und in Syrien, gestern in Somalia, in Libyen, und im Irak.
SOMALIA
Der Zusammenbruch Somalias ist schon so lange her und das Land so sehr Randgebiet, dass man die Einzelheiten in Erinnerung rufen muss. Das „nationale“ Regime unter dem militärischen Starken Mann, General Siad Barré, brach 1991 zusammen, weil Barré den Krieg gegen Äthiopien im Ogaden 1978 verloren hatte und weil er sich in den 21 Jahren seiner Machtausübung zunehmend auf seinen eigenen Stamm, die Merehan und deren Verbündete, abstützte und die anderen, besonders die Mijirtin und die Isaq, schliesslich zur Rebellion reizte. Als der Kalte Krieg endete, liessen die USA Barré fallen, nachdem sie ihn seit dem Ogaden-Krieg gegen die Sowjetunion gestützt hatten, die ihrerseits Äthiopien zur Seite stand.
Seither konnte der somalische Staat nie mehr wiederaufgerichtet werden. Stammesoberhäupter mit ihren Milizen kämpften gegeneinander. Auf islamischer und relativ gemässigt islamistischer Grundlage bildete sich von 2001 an eine die Stammestrennungen übergreifende Macht, die „Union der Islamischen Gerichte“. Washington überzeugte 2006 Äthiopien, den Nachbarn und Erbfeind Somalias, gegen diese islamisch-islamistische Bewegung einzugreifen und Truppen ins Land zu entsenden. Dies hatte zur Folge, dass sich ein radikalerer islamistischer Flügel von der „Union der Islamischen Gerichte“ abspaltete und unter dem Namen „Schebab“ (die Jungen) die Hauptstadt und grosse Teile des Landes eroberte.
Dauerpräsenz der „Schebab“
Die Äthiopier zogen 2009 wieder ab, nachdem sie der offiziellen Regierung Somalias, die im Ausland gebildet worden war, Zugang zur Hauptstadt verschafft hatten. Die „Schebab“ blieben als Macht im Hinterland und als Untergrundkämpfer in der Hauptstadt. Im Jahr 2012 schlossen sie sich offiziell der Al-Kaida an und nahmen ausländische „Jihadisten“ in ihre Reihen auf. Die Amerikaner bekämpfen sie aus der Luft mit Drohnen, und es gelang ihnen 2014, ihren Chef, Abdi Godan, zu töten. Auf seinen Nachfolger, Ahmed Omar, setzte Washington eine Belohnung von 2 Millionen Dollar aus.
Die „Schebab“ stiessen mit Kenia zusammen; in der Folge marschierten Truppen aus Kenia in Somalia ein. Mogadiscio und später, 2014, die Hafenstadt Kismayo, wurden den „Schebab“ entrissen. Friedenstruppen der Uno verliessen das Land 1995 ohne Frieden gebracht zu haben. Amerikanische Friedenstruppen hatten das Land schon vorher geräumt, nachdem ein Helikopterabschuss 1993 zu einer Schlacht geführt hatte, in der sechs Marines und Hunderte von Somalis ihr Leben verloren.
Die Nachfolge übernahmen afrikanische Friedenstruppen. Sie konnten die Hauptstadt teilweise absichern und sogar 2012 in einem Hangar des dortigen Flughafens die „Wahl“ eines neuen Präsidenten organisieren. Das Stadtinnere war zu unsicher für die Wahlversammlung. Die „Schebab“ und weitere Kampfgruppen dominieren bis heute weite Teile im Landesinneren und erweisen sich immer erneut in der Lage, in der Hauptstadt Überfälle und Bombenanschläge durchzuführen.
Hunger und Zerfall
Weiter im Norden hatten sich zwei Landesteile einseitig vom Somalia losgesagt: Somaliland, die ehemalige britische Kolonie, 1991 als unabhängiger Staat und Puntland, angrenzend an Djibuti, 1989 als autonomes Gebiet. Beide sind aber bis heute nicht von der Uno als Staaten anerkannt.
Die „Schebab“ griffen über nach Kenia und verübten dort blutige Anschläge. Für sie war dies Vergeltung für den Einmarsch der Kenianer in Somalia. Ein breiter Gürtel im Norden Kenias, der an Somalia angrenzt, ist von sunnitischen, Somali sprechenden Stämmen bewohnt. Sie sollten nach Ansicht der Somalier einschliesslich der „Schebab“ zu Somalia geschlagen werden. Das gleiche gilt von dem äthiopisch beherrschten Ogaden. „Nationale“ Anliegen begegnen sich in beiden Gebieten mit religionspolitischen. Somalia litt in den frühen 90er Jahren, dann erneut 2010 bis 2012 unter Hungersnöten mit 260‘000 Todesopfern nach Schätzungen der Uno. Die Uno warnt, gegenwärtig stehe eine neue Hungersnot bevor.
Kein Zurück in die Staatengemeinschaft
Das wilde Geschehen in Somalia lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Stammesrivalitäten brachten einen geschwächten „Nationalstaat“ zum Zusammenbruch. Im Land selbst entstanden islamisch-islamistische Gegenbewegungen zu den Stammeskämpfen. Die Einwirkung von aussen durch die Äthiopier und später die kenianischen Nachbarn – beide mit Ermutigung „des Westens“, besonders der USA – bewirkte die Radikalisierung der islamistischen Strömung, beginnend im Jahr 2006.
Seither versucht das Ausland in Somalia wieder einen Nationalstaat herzustellen und das Land in den Verbund der Nationalstaaten zurückzuorganisieren und zurückzukämpfen. Die heutige „internationale“ Politik und Wirtschaft benötigen Nationalstaaten als Grundstrukturen. Ohne sie können sie nicht funktionieren.
Drohnen und Dollars werden eingesetzt im Versuch, den Nationalstaat Somalia wiederherzustellen. Doch die Aussenmächte stossen dabei auf den Widerstand eines islamistischen Staatsverständnisses und auf ihm beruhender Machtstrukturen. Diese verbinden sich mit traditionellen Stammesstrukturen. In dieser Konstellation leisten sie „antikolonialistischen“ Widerstand gegen die von Fremden oktroyierten „nationalstaatlichen“ Strukturen.
Übersicht zur Serie "Failed States"
Teil 1: Stammesgesellschaft und Nationalstaat, Religion und Moderne, Fall Somalia
Teil 2: Fall Afghanistan (erschienen am 9. März 2017)
Teil 3: Fall Jemen (erschienen am 11. März 2017)
Teil 4: Fall Libyen (erschienen am 13. März 2017)
Teil 5: Rolle der Armeen: Fall Syrien (erschienen am 15. März 2017)
Teil 6: Rolle der Armeen: Fälle Irak, Saudi-Arabien, Ägypten (erschienen am 17. März 2017)