Massensterben hat es in der Erdgeschichte wiederholt gegeben. Gegenwärtig findet nach der Meinung von Wissenschaftlern das sechste Grossereignis in dieser Serie statt.
Bei den fünf vorhergehenden Katastrophen starben jeweils mehr als drei Viertel aller Arten aus, doch danach erholte sich deren Vielfalt immer wieder. Man vermutet als Ursachen Naturereignisse von globaler Dimension, zum Beispiel Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche. Das neue Massensterben ist eine Katastrophe eigener Art, weil daran nicht nur die Natur, sondern auch der Mensch beteiligt ist. Er hat sich sozusagen zu einer «Naturkraft» entwickelt – zu einer verhängnisvollen.
Das Hybrid Mensch-Technik-Natur
Das heisst, wir sollten nicht mehr im Gegensatz Kultur-Natur denken. Natur ist heute nicht «draussen». Sie ist Teil des hybriden Systems Mensch-Technik-Natur. Gewiss, immer wieder bedrohen schicksalshafte Ereignisse wie Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen unsere menschengemachte Ordnung, aber das sind weniger Heimsuchungen «von aussen», als eher interne Pannen oder «Anomalien» des Systems Mensch-Technik-Natur. Auch das Erdklima ist kein reines Naturphänomen mehr. Wenn man in ihm eine Hauptursache des Artensterbens sieht, sollte man den menschlichen Einfluss nicht ausser Acht lassen. Bereits der prähistorische Mensch soll einen signifikanten destruktiven Einfluss auf die Tierwelt gehabt haben. Das behaupten Biologen der Universität Göteborg, die mit Fossiliendaten und neuesten Computermethoden die evolutionären Selektionsprozesse untersuchen. In einem Artikel aus dem Jahr 2020 schreiben sie: «Wir finden keine wesentliche Evidenz für klimabedingte Artenauslöschung während der letzten 12’6000 Jahre. Stattdessen finden wir, dass die menschliche Einwirkung das Verschwinden der Säugetiere in dieser Zeitspanne erklärt.»
Ökokapitalismus
Früher schützten sich die Menschen vor der Natur. Heute, auf hoher technischer Entwicklungsstufe, muss man die Natur vor dem Menschen schützen. Genau das bedeuten ja Artenschutz, Naturschutz, Umweltschutz. Was ist uns der Artenschutz wert? Was ist uns die Natur wert? Die Natur sagt uns nicht, was wertvoll ist und was nicht. Das tun Menschen, heute primär Technokraten und Ökonomen.
Die grossen wirtschaftlichen Player haben gemerkt, dass sie abhängig sind von intakten Ökosystemen. Es gibt die wirtschaftsorientierten Verfechter des Naturschutzes. Sie messen den Wert ökologischer Systeme an ihrem Potenzial als nachhaltige «Dienstleister» menschlichen Wohlergehens. «Statt den Kapitalismus zu beschimpfen», schreibt etwa der amerikanische Ökologe Peter Kareiva, «sollten die Umweltschützer mit Unternehmen Partnerschaften schliessen, im wissenschaftsbasierten Bemühen, natürliche Werte und Nutzen in gemeinsame Operationen zu integrieren». Das hat etwas für sich, nur darf man annehmen, dass diese «gemeinsamen Operationen» im kapitalistischen Kontext primär dem Ziel dienen, natürliche Werte und Nutzen vom Marktpreis festlegen zu lassen. Unverblümter gesagt: Umweltschutz heisst Schutz der Geschäftsinteressen an der Umwelt. The business of business is business.
Ökodiktatur
Auf der anderen Seit gibt es Ökologen, die nicht vor radikalen bevölkerungspolitischen Massnahmen zurückschrecken: Freunde der Natur, Feinde des Menschen. Eine buntscheckige Gilde von Ökokalyptikern – vom abgedrehten Spinner bis zum seriösen Wissenschafter – hält heute das Banner der Rettung von Natur und Erde hoch. Neuerdings werden antidemokratische Töne laut, spricht man von diktatorischen Massnahmen zum Erhalt von Mutter Erde. James Lovelock, der die Erde als einen einzigen planetraischen Organismus konzipierte – «Gaia» –, schlug vor nicht allzu langer Zeit eine Experten-Herrschaft vor: «In demokratischen Ländern ist die Zerstörung der Natur und die Anhäufung ökologischer Katastrophen am weitesten fortgeschritten (…) Unsere einzige Hoffnung liegt in einer rigiden zentralisierten Regierung und der kompromisslosen Kontrolle des individuellen Bürgers.» Erinnert das nicht an bestimmte Regimes?
Der Mensch ist der Alien auf diesem Planeten
Aus der griechischen Mythologie stammt das Danaergeschenk. Eine Gabe, die sich als unheilvoll entpuppt. Ist die menschliche Intelligenz ein solches Danaergeschenk der Natur? Während die anderen Tiere Spezialisten der Umweltanpassung sind, ist der Mensch ein spezialisierter Nicht-Anpasser. Er hat eine kognitive Ausstattung «geschenkt» bekommen, mit der er die Umwelt sich anpassen kann. Und dadurch ist er im Begriff, sich zum Fremdling auf seinem Planeten zu entwickeln – zum Alien. Er löst sich aus ökologischen Zusammenhängen, gestaltet sie um, schafft neue natürlich-künstliche. Die Gentechnik produziert neuartige Organismen. Man spricht von Biofakten, also von «gemachtem» Leben. Heute besteht die Möglichkeit zur Herstellung neuer Spezies, und in diesem Sinn sind wir zu Fabrikanten eines Reichs natürlich-künstlicher Zwitterwesen geworden. Die Pandorabüchse ist geöffnet. Welche Mischkreaturen daraus entweichen, ist nicht vorherzusehen.
Omnizid: Potenzielle Selbstauslöschung
Der Mensch wird nicht nur zum Fremdling, sondern zum potenziellen Selbstauslöscher. Omnizid bezeichnet den anthropogenen Menschheitsuntergang; also nicht die Auslöschung aufgrund einer «externen» Katastrophe, sondern aufgrund «interner» zivilisatorischer Entwicklungen. Das beschrieb der britische Science-Fiction-Autor Olaf Stapledon bereits in der 1930er Jahren. In seinem Roman «Starmaker» bereist ein fiktiver Erzähler zahlreiche Galaxien und ihre Zivilisationen, und er beschreibt deren Schicksale. Die meisten Zivilisationen würden in einer Phase der technologischen Reife ausgelöscht, berichtet er, dann also, wenn sie massive technische Machtfülle erlangt haben, aber nicht die dazu nötige Reflexionsfähigkeit über deren Folgen.
All dies ist nicht mehr Science Fiction. In der Mitte des letzten Jahrhunderts nahm die Idee der realen globalen Menschheitsabschaffung unheimliche Gestalt an im Atompilz. In der Folge gesellte sich das Szenario des Klimawandels dazu, und neuestens sehen wir uns konfrontiert mit der schwer kontrollierbaren Launenhaftigkeit der ältesten, der mikrobischen Bewohner unseres Planeten. Auch wenn Pandemien nicht unbedingt omnizidal sind, ist es ratsam, alle drei Faktoren im umfassenderen Kontext des Anthropozäns zu sehen, in dem der Mensch mit seiner Technologie eine buchstäblich geophysikalische Gestaltungskraft geschaffen hat. Ihre Rückansicht ist die Zerstörungskraft. Dies meinte wohl auch Robert Oppenheimer, als er nach der Detonation der ersten Atombombe aus der hinduistischen «Bhagavad Gita» zitierte: «Jetzt bin ich Tod geworden, der Zerstörer der Welten.» Das war der Beginn des Zeitalters der Selbstauslöschung.
Verstehen wir, was wir tun?
Wie weiter? Niemand weiss es. Und die Ungewissheit nährt Dystopien wie Utopien; Zerfall der alten Zivilisation wie Neugründung von Zivilisationen auf andern Planeten. In Friedrich Dürrenmatts Stück «Porträt eines Planeten» sagt der Physiker: «Ich erforschte das Innere der Atome – Ich untersuchte die Beschaffenheit der Sonne – und versuchte die Struktur des Alls zu erfassen. – Ich fütterte mit meinen Kenntnissen die Computer. Die Computer gaben Formeln von sich, die ich gerade noch begriff … Ich fütterte die Computer wieder, die eine Formel von sich gaben, die nur noch Computer begriffen, ohne sie zu verstehen. Jetzt starre ich immer wieder auf die Formel, die das letzte Geheimnis dieser Welt bedeutet, die einen Sinn hat, den ich nicht verstehe …» Der Mensch schafft sich ab, und er versteht nicht, was er tut.
Soweit muss es nicht kommen. Künftige Generationen – sofern es sie noch gibt – werden wahrscheinlich auf unsere Zeit als auf eine schicksalshafte Schwellenzeit zurückblicken, darauf, wie sehr wir unseren Planeten gefährdeten und wie wenig wir unsere Imagination einsetzten, dieser Gefährdung zu begegnen. Wir sind ungeheuer fähig, Dinge herzustellen, aber wir sind kaum fähig, uns vorzustellen, was wir mit diesen Dingen anrichten.