Zwar wird Anshu Jain, der bisherige Londoner Chef des Investment Banking unter Josef Ackermann, seinen Chefsessel zunächst mit Jürgen Fitschen teilen. Aber was wie eine Herabsetzung aussieht, ist eher das Gegenteil: Der Aufsichtsrat war so erpicht auf Jain, dass er sogar seine mangelnden Deutsch-Kenntnisse in Kauf nahm. Bis er diese aufpoliert hat, soll ihm Fitschen zur Seite stehen.
Es ist das erste Mal, dass ein Inder als professioneller Manager in eine Spitzenposition der europäischen Wirtschaft aufsteigt. In den USA fällt es schon gar nicht mehr auf, wenn ein Inder ein Fortune 500-Unternehmen führt. „Im Gegenteil“, liess sich ein Headhunter in einer indischen Zeitung zitieren, „die Herkunft schafft bei einem Bewerbungsgespräch allein schon eine positive Erwartung.“
Worin liegt das Geheimnis?
Laut einer Umfrage der Personalfirma Egon Zehnder bilden Inder die grösste Führungsgruppe hinter den in den USA geborenen Amerikanern. Unternehmen wie PepsiCo, MasterCard, Kraft, Motorola, Berkshire Hathway (hinter Warren Buffett), Citigroup, Vodafone werden oder wurden von Indern geführt, ebenso Kaderschmieden wie Harvard, Insead, Chicago, Northwestern und Wharton. Das Wahrzeichen der Olympischen Spiele in London, der ArcelorMittal Orbit, wurde von Lakshmi Mittal in Auftrag gegeben und vom Künstler Anish Kapoor entworfen (sowie einem in Sri Lanka geborenen Ingenieur errichtet).
Was ist es, das Indien zu einem derart fruchtbaren Inkubator für erfolgreiche Manager macht – ein Land, das gemäss Weltbank auf Rang 134 figuriert, wenn es um "Ease of doing business" geht? In dem es 80 Bewilligungen braucht, um eine Fabrik zu errichten? Gerade deshalb, könnte man sagen: Wer in Indien erfolgreich ist, der kann’s weltweit richten. Mit seiner blamablen Infrastruktur, einem Beamtenheer, gierigen Politikern und unzähligen demokratischen Fallstricken braucht es hier Zähigkeit und Geduld, Optimismus und Risikofreude, Verhandlungsfähigkeit, das Denken in Alternativ-Szenarien. Der INSEAD-Leiter Dipak Jain fand für die Fähigkeiten seiner Landsleute dieselben Ausdrücke wie für erfolgreiche MBA-Abgänger: „Navigate uncertainties, deal with complexities“.
Bausteine für erfolgreiche Manager
Es bedarf auch einer aggressiven kompetitiven Energie, damit junge Inder in einem Meer von Menschen schliesslich obenauf schwimmen, gerade jene – die grosse Mehrheit – die ohne Silberlöffel im Munde die Welt betraten. Über eine halbe Million wollen jedes Jahr in eines der sieben "Indian Institutes of Technology" – dem Äquivalent der ETH – aufgenommen werden; weniger als 2000 schaffen es. Als vor kurzem im Bundesstaat Madhya Pradesh 65‘000 Hilfslehrerstellen ausgeschrieben wurden, meldeten sich 1,3 Millionen Kandidaten. Allein schon die Prüfungen waren eine logistische Herausforderung: Die Prüfungen wurden in 4000 Zentren abgenommen; in den Städten Bhopal und Indore fanden sich je über 50‘000 Bewerber ein.
Die positiven Bausteine für erfolgreiche Manager kommen also nicht nur aus negativen Rahmenbedingungen. Wer in Indien aufwächst, tut es nicht nur in einer "funktionsfähigen Anarchie", wie J.K.Galbraith das Land genannt hat, er lebt auch in einem kulturell überreichen Kontext. Ein Inder ist mit verschiedenen lokalen Kulturen vertraut, er verfügt über multiple Identitäten und soziale Rollen, spricht oder versteht in der Regel schon als Kind drei bis vier Sprachen.
Religion als Teil des Alltags
Viele Top-Manager führen ihren Karriere-Erfolg darauf zurück, dass sie als Kinder immer wieder umgezogen sind, weil ihre Väter von ihrem Arbeitgeber versetzt wurden – nicht selten alle zwei Jahre. Es bedurfte der Anpassung an neue Nachbarn, Schulkollegen, Mentalitäten, Sprachen. (Dasselbe gilt übrigens auch für Schönheitsköniginnen: Eine überdurchschnittliche Zahl stammt aus Armeekreisen, und viele erklären ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre Intelligenz damit, dass sie sich in immer neuen Schulen zurechtfinden und behaupten mussten).
Bei einem "Leadership Survey" der Firma Hay Group Consultancy fand diese eine weitere Kategorie, in der indische Manager hinter katholischen Nonnen und Priestern auf Platz 2 rangieren: "Innere Kraft". Es sei ihre Fähigkeit, ethische Werte in die Tätigkeit und die persönliche Management-Philosophie einfliessen zu lassen. Man möchte meinen, dass dies nicht erstaunt bei einem Volk, in dem Religion einen selbstverständlichen Tag des Alltags darstellt, und in der persönliche Frömmigkeit sich nicht verstecken muss. Doch man braucht sich nur vor Augen zu halten, dass Indien nicht nur im Manager-Export und in der Anzahl von Tempeln Spitzenwerte erreicht, sondern auch auf dem Korruptionsindex. Die brillante Anpassungsfähigkeit hat auch ihre dezidiert schattigen Stellen.
Ein sensationeller Fall von Insider-Kriminalität im letzten Sommer in den USA hat gezeigt, dass die vielgerühmte Flexibilität auch Kernwerte ins Schwanken bringen kann. Ich spreche vom Fall Raj Rajratnam, dem Besitzer eines Hedge Fund namens "Galleon Group". Am 13.Oktober 2011 verurteilte ein Gericht in New York Rajratnam zu elf Jahren Haft, weil er dank Kontakten und Tipps aus Führungsetagen amerikanischer Firmen illegale Gewinne von über sechzig Millionen Dollars einstreichen konnte.
Auf dem Titelblatt von TIME
Rajratnam ist srilankischer Herkunft, doch bei den Tippgebern in den Führungsetagen handelte es sich in der Mehrzahl um indischstämmige Kaderleute. Sie liessen sich ihr Insiderwissen vergolden, obwohl sie alle hohe Saläre bezogen. Besonders schockiert war die Öffentlichkeit, als unter den Informanten Rajat Gupta auftauchte, ein gebürtiger Inder, der es bis in die Schaltstellen der grössten Konzerne geschafft hatte – er sass u.a. im Verwaltungsrat von Goldman Sachs und von Procter&Gamble. Bis 2007 zeichnete er als weltweit Verantwortlicher des Beratungskonzerns McKinsey, ein Job, der ihm ein enormes Insiderwissen über grosse Teile der internationalen Geschäftswelt gab.
Noch grösser war der Schock in Indien, wo Gupta für viele Absolventen von Business Schools als Guru galt, hatte er doch die "Indian School of Business" in Hyderabad mitbegründet. Bei den Abschlussfeiern zitierte er regelmässig aus der "Bhagavad Gita", wie wichtig es sei, den "richtigen Weg" dem "leichten Weg" vorzuziehen. Gupta ist noch nicht verurteilt worden, und ich will über ihn nicht den Stab brechen. Noch weniger kann man dies pauschal für die vielen Inder tun, die im Ausland zu Erfolg gekommen sind. Dafür bürgt nicht zuletzt Preetinder Bharara, der als Kind von Ferozepur im Panjab nach New Jersey gekommen war. Heute ist er Staatsanwalt für den "South District" von New York, ein Job, der bereits Rudolph Giuliani Ansehen gebracht hat. Bharara ist es, der Rajratnam und sein Netzwerk dingfest gemacht hat. Behilflich war ihm dabei der Chef der "Market Abuse Unit" des SEC – ein Amerikaner namens Sanjay Wadhwa. Am Wochenende las ich, dass TIME in seiner jüngsten Ausgabe Preet Bharara auf das Titelblatt gesetzt hat.