Im Juni 2012 fragte das «Wall Street Journal» im Titel eines Artikel «Warum einen Anwalt anstellen? Computer sind billiger». Die Rede war von einer technologischen Innovation im Rechtsgeschäft, die geradezu emblematisch für unsere Gesellschaft ist.
Bei einem Gerichtsverfahren wegen des Einsturzes von drei Hangardächern ersuchten die Anwälte der verantwortlichen Firma um den Beistand eines Computerprogramms: «Predictive Coding». Der Algorithmus funktioniert so: Nachdem er mit Dokumenten gefüttert worden ist, sichtet ein Anwalt einen ausgewählten Teil, um dem Programm einzugeben, was fallrelevant ist. Das wird wiederholt, bis das Programm «gelernt» hat, nun selbst Dokumente auf ihre Relevanz zu prüfen.
Auf diese Weise übernimmt es die zeitaufwendige Dossier-Maloche, die eine Anwaltskanzlei traditionellerweise an subalterne Mitarbeiter oder an billige einschlägige Temporärfirmen überwälzt (letztere sind vor allem in den USA eine Nischenindustrie). Man schätzt, dass dadurch die Anwaltskosten auf einen Zehntel reduziert werden könnten.
Automatisieren setzt Delegieren voraus
Natürlich ersetzen Programme Anwälte nicht. Aber dieses «Auslagern» langweiliger, stumpfer Arbeiten ist Symptom einer tieferen Entwicklung, nämlich des Delegierens sowohl manueller wie intellektueller Tätigkeiten an Automaten. Delegieren ist der zentrale Motor heutiger technischer Innovationen. Und niemand kann voraussagen, was alles in Zukunft noch von den Maschinen übernommen wird.
Zur Zeit stehen Google-Autos im Fokus der Aficionados von Gadgets, aber die Designer haben anderes als nur selbstfahrende Vehikel im Visier. In einem lockeren Sprachgebrauch ist schon seit längerem die Rede von Automaten, die «entscheiden», «planen», «wahrnehmen», «auswählen», «voraussehen», von «moralischen» und «empfindsamen» Robotern, vom «Wissen» und von der «Weisheit» des Internets. Umgangsformen greifen Platz, in denen Maschinen die Rolle von Partnern, Akteuren, Quasi-Personen, Usurpatoren, womöglich Feinden übernehmen. In einem solchen Umfeld wundert es daher nicht, dass der künstliche Rechtsexperte allmählich an Kontur gewinnt.
Neutralität versus menschlicher Faktor
Im Vordergrund stehen meist ökonomische Erwägungen: Senkung der Kosten, des Zeitaufwands, Optimierung der Anwaltsarbeit – was normalerweise auf die Minimierung des Personals hinausläuft. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt macht sich geltend. Am Bundesverwaltungsgericht delegiert man bereits die Fallzuteilung an entsprechende Software. Darin kommt natürlich zunächst einmal das juristische Grundanliegen eines möglichst objektiven, neutralen Urteils des Spruchkörpers zum Ausdruck.
Wie die Journalistin Brigitte Hürlimann schreibt (NZZ, 9.10.09), trägt «die Göttin der Gerechtigkeit, Justitia, (...) eine Augenbinde, weil sie beim Richten (...) nicht darauf Rücksicht nehmen darf, wer vor ihr steht.»
Dagegen hat der Berner Verwaltungrichter Thomas Müller-Graf den «menschlichen Faktor» ins Treffen geführt: «Sehende Richter braucht das Land. Wer den ‚human factor’ in der Rechtsprechung partout ausschalten will und daher den Zufallsgenerator zum Garanten richterlicher Unabhängigkeit hochstilisiert, geht von einem Richterbild aus, das auf einem Missverständnis beruht (...) Die (...) Gefahr der Manipulation durch die Besetzung des Spruchkörpers besteht nur, wenn ein Gericht einen Mangel an Professionalität aufweist (...) Die Verfassung wird durch Professionalität geschützt, nicht durch Automation.»
Schlüsselbegriff Professionalität
«Professionalität» ist das Schlüsselwort. Nehmen wir es etwas genauer unter die Lupe. Profession bedeutet ja Bekenntnis zu einer Tätigkeit, sei sie manuell oder intellektuell. Und damit ist natürlich ein Engagement in den Tätigkeiten angesprochen, die man ausübt, sei man nun Anwalt, Schreiner oder Bauer. Engagement heisst: Es gibt eine innige Beziehung zwischen mir und der Arbeit. Mit der Delegierung von Arbeiten und Dienstleistungen löse ich diese Beziehung auf, «delegiere» ich auch mich bis zu einem gewissen Grad – gebe ich mich teilweise auf. Und das ist alles andere als ein harmloser Vorgang.
Die Entlastung von Arbeiten, das haben die Betriebs-«Rationalisierungen» der letzten Jahrzehnte deutlich und oft dramatisch gezeigt, verursacht bei den Betroffenen meist neue Lasten: physische, psychische, existenzielle. Es ist meist überhaupt kein Gleichgewicht, das sich zwischen Mensch und Maschine einstellt. Und damit gewinnt neben der Frage «Was ersparen wir uns durch das Delegieren an Maschinen?» die komplementäre Frage an Dringlichkeit: «Was geben wir (von uns) weg durch das Delegieren an Maschinen?»
«Neuerfinden» des Menschen?
Die zweite Frage entpuppt sich immer mehr als zentraler Widerspruch der sogenannten Wissensgesellschaft. Der französische Philosoph Michel Serres feiert in einem kürzlich erschienenen Essay geradezu hymnisch die «Neuerfindung» des Menschen durch das Internet. Er schwadroniert davon, dass wir unseren Kopf leeren, um nicht zu sagen: «abgeben» können an das neue Medium, um solcherart zu freien, entlasteten, kreativen Menschen zu werden.
Nichts könnte falscher sein. Selbstverständlich fordern und fördern neue Technologien stets auch adaptierte Kenntnisse und Kompetenzen, machen also eine neue Professionalität notwendig. Das aber heisst gerade nicht, auf alte Kenntnisse und Kompetenzen zu verzichten.
Ohnehin ist das Denken in Gegensätzen wie Professionalität versus Automation irreführend. Viel fruchtbringender erscheint es, zu fragen, in welche neuen Gleichgewichte oder auch Ungleichgewichte uns der alltägliche Umgang mit den Automaten führt. Die Frage erweist sich also – recht besehen – als eine zutiefst anthroplogische, im Sinne von Kant: Was machen wir Menschen aus uns selbst im Umgang mit den Maschinen? Was machen wir mit unseren naturwüchsigen Fähigkeiten, mit unserer naturwüchsigen Intelligenz angesichts der künstlichen?
«Schnelles» versus «langsames» Wissen
Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Aber sie kann wie ein Leitlicht durch die Vielfalt der Tätigkeitsfelder führen, in denen die Automation Platz greift. Betrachten wir eine andere exemplarische Profession: die Medizin. Ihre Technisierung ist altbekannt. Expertensysteme gehören zum klinischen Alltag. Big Data infiltriert auch die Tätigkeit des Arztes.
Der Internist Abraham Verghese legte kürzlich im amerikanischen Magazin «The Atlantic» den Finger auf den entscheidenden Punkt: «Was sich in der inneren Medizin dramatisch geändert hat, sind die heute grösstenteils elektronischen medizinischen Berichte («electronic medical records»), die riesige Informationsmengen enthalten und mit jeder Stunde, die der Patient in der Klinik verbringt, weiterwuchern.»
Nicht die Menge und Komplexität des Wissens ist daher das Problem, sondern die Art und Weise, wie der Arzt mit ihm umgeht. Und genau hier, so Doktor Verghese, ist alte ärztliche Kunst gefragt: «Wir haben es mit einem allgemeinen medizinischen Problem zu tun: Schnelles Wissen favorisiert Labortests, Computertomografie, Sprechstunden (...) Es suggeriert, dass das einzige, was zählt, das Messbare ist (...) Langsames Wissen (...) zieht Erfahrenheit der Cleverness vor, den Sinn für die Individualität des Patienten, für eine auf ihn massgeschneiderte Behandlung anstelle von algorithmengenerierten Lösungen (...). Nur am Patientenbett finde ich am besten heraus, was wichtig ist, nicht auf dem Bildschirm.»
Wissen als Kunde
Es handelt sich hier nicht nur um ein medizinisches Problem. Was Doktor Verghese als «schnelles» und «langsames» Wissen bezeichnet, stellt sich in Wahrheit als Kern des Expertentums heraus – und damit als das, was auf dem Spiel steht. Ich nenne es das Wissen als Kunde.
Einigen ist der Begriff noch vertraut aus schulischen Zeiten: Erdkunde, Tierkunde, Menschenkunde. Nicht eine «gute, alte» Naturkunde soll nun freilich mit diesem Begriff evoziert werden. Vielmehr bezeichnet Kunde eine Art des Wissens, die noch heute den Experten charakterisiert. «Expertus» ist die Person, die etwas erfahren hat, und diese Erfahrung nun quasi in sich hat sedimentieren lassen.
Man mache mit einem Waldkundigen einen Gang durchs Gehölz. Gegenüber dem Unkundigen zeichnet er sich nicht einfach durch ein Mehr an Informationen aus, sondern buchstäblich durch eine andere «Lesart” der Phänomene. Wo ich, der Unkundige, wie ein Analphabet vor einem nichtssagenden Stück Holz stehe, liest der Kundige aus Borkenstruktur, Flechtenbewuchs, Käferbefall, Wildverbiss etc. eine kleine Naturgeschichte des Waldes heraus. Er sieht Spuren, Indizien, Anzeichen, Hinweise, Schlüssel. Er hat ein Wissen, das buchstäblich «inkarniert» ist. Man spricht nicht zufällig vom eingefleischten Kenner.
Kundig ist eine Person, die ihr Wissen, ihre «Kunde» und Botschaft, direkt aus dem sinnlich-praktischen Kontakt mit ihrem Objekt – der Pflanze, dem Stein, dem Motorrad – erhält. Sie wird dadurch auch von ihrem Objekt «gebildet», eben «in-formiert»: sie entwickelt ein besonderes Sensorium dafür. Dazu gehört, dass diese Person weiss, worauf sie nicht achten, was sie nicht wissen muss. Intelligente Ignoranz: eine im Zeitalter von Big Data entscheidende Fähigkeit.
Menschliches Expertentum als Bildungsziel
Es gilt dabei nicht diese Art des Wissens gegen andere, «delegierte» Arten auszuspielen. Es gilt sich zu überlegen, wie wir in den heutigen, zunehmend automatiserten Tätigkeitsfeldern diese Wissensart revalidieren und revitalisieren können und sollen.
Nichts anderes fordern nämlich sowohl der Jurist als auch der Arzt mit dem «sehenden Richter» bzw. dem «langsamen Internisten». Augenmass, Fingerspitzengefühl, Tast- und Taktsinn, kasuistische Sensibilität – wie immer man das Vermögen nennen mag, es wird auf jeder neuen Stufe der technischen Entwicklung seine entsprechende Rolle und Bedeutung finden. Mir scheint, wenn Bildung heute, im Zeitalter von Big Data und des Wissens auf Klick, eine sinnvolle Aufgabe sein soll, dann liegt sie in dieser «Neuerfindung» des Menschen als Experten.