Abfall füllt die Strassen, Fensterrahmen sitzen schief, Abmachungen sind Ansichtssache. Nirgends sind Clichés so zutreffend wie in Indien – und so falsch. ‚Erwarte das Unerwartete‘ ist eine gute Überlebensstrategie für den Umgang mit dem Land.
Ein Elektriker aus Pune erzielte letzthin ein rekordverdächtiges Resultat: Er hatte 28 Jahre lang keinen Tag freigenommen. 1985 war er bei einem lokalen Stahlwerk als Betriebselektriker untergekommen. Froh um einen festen Job entwickelte er eine derartige Zuneigung dazu, dass er freiwillig jeden Tag zur Arbeit erschien.
Krankschreiben kam nicht in Frage, Schmerzmittel genügten. Ferien mit der Frau? Dazu hatte er keine Lust, so ging sie eben mit ihren Verwandten auf Ausflüge und Pilgerfahrt. Die Erziehung der beiden Kinder überliess er ihr. Als sie heirateten, wurde die Zeremonie auf den frühen Morgen verschoben, damit er den Arbeitsort noch rechtzeitig erreichen konnte. Als der Bus einmal eine Panne hatte, lief er im Laufschritt zur Arbeit, um noch rechtzeitig das Anwesenheitsregister zu zeichnen.
„Keep up the good work“
Die Arbeitswut des ‚wireman‘ sprach sich herum. In einer Zeitung erschien ein Bericht, in dem auch das ‚Guinness Book of Records‘ erwähnt wurde. Nun sei er bei den Guinness-Leuten schon mal angemeldet, erzählte er vor kurzem der ‚Maharashtra Times‘. Noch sei es nicht soweit, schrieben diese zurück, fügten aber hinzu: „Keep up the good work“.
‚Expect The Unexpected‘. Wenn man, nach Jahrzehnten der Beobachtung der indischen Psyche zum unumstösslichen Schluss kommt, eine ihrer Grundfesten sei das, sagen wir einmal, lockere Verhältnis zu Arbeit und Disziplin, kommt ein Elektriker daher und wirft alles über den Haufen. Natürlich kommt mit dem ‚Guinness Book‘ Ehrgeiz ins Spiel, aber wer könnte selbst in der arbeitsverliebten Schweiz behaupten, er habe auch nur in einem Jahr keinen Tag am Arbeitsplatz gefehlt? Man würde ihn wohl in polizeilichen Gewahrsam nehmen.
Besuch aus der Schweiz
Die Geschichte aus Pune kam mir in den Sinn, als ich letzthin eine Gruppe von Architekten der ETH Zürich begleitete. Sie gehörten zum Pilgerstrom von Architekten und Stadtplaner, die dieser Tage Bombay besuchen. Es ist nicht so sehr aus Verehrung für dessen Stadtentwicklung, sondern um Einsichten zu gewinnen, wie es nicht geschehen sollte. Wenn Respekt, dann gilt er nicht der Unzahl von Behörden, die an diesem riesigen Fleischwolf herumhantieren, sondern den Millionen von Armen, die sich auf engstem (physischen wie politischen) Raum mit beachtlicher Menschenwürde ihr Überleben erkämpfen.
Die Schweizer Delegation wurde von Prof. Sascha Menz begleitet, der an der ETH Hönggerberg die Abteilung Bauverfahren und Baumaterie führt. Neben den Slumhütten und dem Erfindungsreichtum, mit dem sich deren Bewohner quasi aus Nichts ein Heim schaffen, wollte er für einen Tag auch in meine Umgebung nach Alibagh kommen. In diesem Fall war es tatsächlich eine Pilgerfahrt. Denn sie galt dem Architekten Bijoy Jain, der in den letzten Jahren zu einem Shooting Star der internationalen Architekturszene geworden ist.
Manische Insistenz auf Verarbeitungsqualität
Jain verdankt diesen Ruf weder dem Hochglanz seiner Bauten noch den formalen Verrenkungen seiner Betonsäulen. Das ‚Studio Mumbai Architects‘ zeichnet sich im Gegenteil durch Langsamkeit aus, räumt traditionellen handwerklichen Kenntnissen viel Zeit ein, und pflegt den Baustoff, sei es Holz, Stein oder Metall. Was seine Arbeit aber besonders hervorhebt, ist die zentrale Rolle, die seine Handwerker im ganzen Gestaltungsprozess des Bauens spielen, und die – ‚Expect the Unexpected‘! – fast manische Insistenz auf Verarbeitungsqualität.
Der Standort Alibagh ist ein Indiz dafür. Die Firma heisst zwar ‚Mumbai Studio‘, aber wer dorthin kommen will, muss die Fähre und dann eine einstündige Autofahrt auf sich nehmen. In den drei Monsunmonaten ist der Schiffsverkehr zudem eingestellt, und die Fahrt dreimal so lang. Aber die Besucher werden reich belohnt: Das ‚Studio‘ ist in Wahrheit eine Bauhütte, unter Palmen ausgebreitet. In einem hektargrossen Baumgarten liegen die Werkräume der Schreiner, Zimmerleute und Steinmetzen; eine mechanische Werkstatt steht dort, Stillhaltebecken, in denen der Kalk gewässert wird, grosse Lager zum Reifen und Lagern von Holz, Steinplatten, Möbeln und Metallen. Und überall sieht man, von der winzigen Streichholz-Maquette bis zur 1:1 Replika, die Modelle, die in Arbeit sind.
Handwerker, einbezogen in den Planungsprozess
Jain hat die moderne Dreiteilung von Bauherr, Architekt und Baumeister aufgehoben. Fast alles wird im Palmenhain gefertigt, von den glattgeriebenen Steinplatten eines Innenhofs, die von alten Bombay-Trottoirs stammen, bis zum Kupferdraht, der zu Lichtschaltern, Türgriffen und Scharnieren verarbeitet wird.
Vor allem erstaunt aber die Rolle, die die Handwerker bereits in den Prozess von Planen und Entwerfen einbezieht. Jain hat sie in Gujerat und Rajasthan angeheuert und nach Alibagh geholt. Hier führen sie nicht nur die Pläne aus, sondern sie zeichnen sie mit, sie verfertigen die Modelle – mindestens drei – bevor sie die Materialien behauen und schliesslich vor Ort zusammenbauen.
In einer japanischen Publikation namens ‚Studio Mumbai:Praxis‘ wird der Zimmermann Jeevaram Suthar zitiert: „Hier läuft jeder Handwerker mit einem Skizzenbuch herum“. Er nimmt Bijoys erste Grobskizze auf, verändert sie, diskutiert sie, bis eine erste kleine Maquette verfertigt wird. Dasselbe gilt für die Kupferhaut eines Dachvorsprung oder die Lamellen eines Fensterladens: Jedes Detail wird auf seine funktionale und ästhetische Rolle hin optimiert.
In der Schweizer Botschaft ausgestellt
Auch die Umgebung eines Hauses wird streng in die Gestaltung des Baus einbezogen. Oft hat man den Eindruck, dass Jain geradezu Projekte wählt, in denen die Natur ihn zwingt, sie wahr- und ernstzunehmen. Etwa als er im Himalaya das Gasthaus ‚Leti360‘ baute, das neun Kilometer von der nächsten Strassenverbindung entfernt lag. Möglichst viel Wissen und Baustoff mussten auf Platz gefunden und dort hergestellt werden, der Rest musste auf seine Transportfähigkeit auf dem Rücken von Frauen geprüft werden.
Oder die Süsswasserquelle am Meeresstrand von Kashed, wo Jain das ‚Tara House‘ baute: Runde Öffnungen im Boden spiegeln im darunterliegenden Wasserbecken, in das die Quelle jetzt fliesst, den Lichteinfall. Die Lichtreflexion verschiebt sich je nach den Gezeiten, da der Salzwassereintritt in das Grundwasser das Süsswasser der Quelle trägt und hebt.
Bijoy Jains Praxis erhielt internationale Aufmerksamkeit, als er 2010 seine Bauhütte an der Architektur-Biennale 2010 in Venedig zeigen konnte. Besonders den Architekten in der Schweiz hat er es angetan, vielleicht weil dort handwerkliche Tradition und die Achtsamkeit für Materialien und ihrer Bearbeitung noch präsent sind. In einigen Wochen wird die Schweizer Botschaft in Delhi – der Anlass ist das 50-Jahre-Jubiläum des Botschaftsgebäudes – Bijoy Jains Arbeiten ausstellen.
Jeder Indienreisende kennt Indiens handwerkliche und technische Fertigkeit, aber oft scheint es, als sei sie nur noch in alten Bauwerken sichtbar, so gedankenlos haben viele Architekten vor der Technologie und der Welle globaler Designangebote kapituliert. Ein Elektriker in Pune und ein Architekt aus Alibagh zeigen, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Indien ist immer noch für Überraschungen gut. Expect the Unexpected!