Nur wenige Diplomaten vollziehen nach dem Verlassen des Amts einen radikalen Bruch mit dem konzeptionellen Mainstream ihres früheren Arbeitgebers, im konkreten Fall also des EDA. Und wenn sie harte Kritik üben, dann meistens nur im privaten Gespräch, nicht aber öffentlich.
Kurt O. Wyss, im diplomatischen Dienst von 1972 bis 2004, unter anderem als Botschafter in Damaskus, Amman und Ankara, war eine Ausnahme. Er übte konsequent unerbittliche Kritik an der Generallinie der von den USA vorgegebenen, von westeuropäischen Regierungen und auch von der Schweiz mit wenigen Ausnahmen nachvollzogenen Grundhaltung zum Nahen und Mittleren Osten. Mit dem Thema Israel/Palästinenser befasste er sich in seinem 2013 publizierten Buch «Wir haben nur dieses Land» – eine harte Abrechnung mit Israels Politik. Wyss wurde Feindseligkeit gegenüber Israel vorgeworfen, aber der zugunsten der Palästinenser neigende Teil der Leserschaft erkannte einen Versuch, mutig gegen den Mainstream in der Publizistik aufzustehen. Arnold Hottinger, langjähriger Nahost-Korrespondent der NZZ, brachte seine Hochachtung für Wyss im Vorwort zum Ausdruck. Aber Hottinger wurde ja auch schon, von verschiedenen Seiten, immer wieder Israel-Feindschaft und zu viel Sympathie für die Sache der Palästinenser vorgeworfen.
Kurt O. Wyss liess sich durch die Kritik an seinem Israel-Palästinenser-Buch nicht beirren – er machte sich an die Arbeit an einer breiteren Thematik – und schrieb, bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2019, an einem Text, der jetzt unter dem Titel «Die gewaltsame amerikanisch-israelische ‹Neuordnung› des Vorderen Orients» erschienen ist.
Wyss erkennt eine Direttissima von den Ideen der US-Neokonservativen der 1990er Jahre zur Schaffung eines «schöpferischen Chaos» im Nahen und Mittleren Osten, zu den Handlungsweisen späterer amerikanischer Präsidenten. Er verweist, gut dokumentiert, auf Protagonisten der Washingtoner «Denk-Fabriken» wie Wolfowitz oder Michael Ledeen: «Es handelt sich um ein Projekt, wonach im Nahen Osten ein Klima von permanentem Kriegszustand und Instabilität geschaffen werden soll.» Und zeigt auf, dass die Ideologie der sogenannten Neo-Cons nicht nur bei Präsidenten der Republikaner wie George W. Bush ihren Widerhall fanden, sondern auch bei der Demokratin Hillary Clinton. Und dass diese Ideologie so auch bis zu einem gewissen Grad in die Nahost-Politik der Obama-Präsidentschaft einfloss. In diese Linie gehörte, gemäss Kurt O. Wyss, eine Destabilisierungs-Strategie in Syrien – schon Jahre vor dem Beginn des Konflikts im Jahr 2011.
Wo der Autor sich allerdings an die zeitliche Schnittlinie von 2011, also den Beginn des Konflikts, begibt, bewegt er sich auf schwankendem Boden: «Der sogenannte Bürgerkrieg in Syrien wurde von aussen angezettelt», lautet der Titel eines Kapitels. Nein, der Aufstand begann als Protest von Syrern gegen Assad. Aussenstehende Kräfte mischten sich zwar sehr rasch ein und verhinderten nicht, dass Waffen bald auch an islamistische Terrorgruppen weiter verkauft wurden. Aber die ganze syrische Tragödie als Werk von äusseren Kräften darzustellen, zielt an den Tatsachen vorbei.
Die Stärke des Buchs, das Engagement des Autors, auch dessen Empörung über die in der nahöstlichen Region von den jeweils Starken gegen die Schwächeren ausgespielten Trümpfe, ist gleichzeitig dessen Problem. Wyss zeichnet die problematischen Visionen der USA und Israels besonders hinsichtlich Syriens, Iraks, Libanons, Irans detailgenau nach – nur lässt er die Schachzüge der meisten anderen Player in der Region mehrheitlich beiseite. Der Syrien-Konflikt wurde ja schon etwa ab 2012 auch ein blutiges «Spielfeld» für die Regionalpolitik Saudi-Arabiens, Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate. Dies unabhängig von US-amerikanischen und israelischen Machenschaften. Libanons Niedergang ist, da kann man Wyss zustimmen, von israelischen Falken wie Netenjahu mitverursacht worden – aber eine wesentliche Rolle kam und kommt weiterhin Saudi-Arabien zu, dessen Regime daran arbeitet, die Regierung in Beirut «Hizbollah-frei» zu machen. Und das mit verantwortlich ist für den Zusammenbruch des libanesischen Finanzsystems.
Und die Rolle Russlands insbesondere in Syrien verharmlost er, das heisst er erkennt in der russischen Kriegsbeteiligung an der Seite des Assad-Regimes ein Bemühen um die Wiederherstellung von Stabilität in der Region – und sieht über die durch Russlands Luftwaffe in Wohnvierteln syrischer Städte angerichteten Gräuel hinweg. Ähnlich, wie er Assads Verantwortung für mehrere Giftgas-Angriffe gegen die eigene Bevölkerung nicht erkennen will (respektive die tatsächlich nicht lückenlos aufgeklärte Schuld für diese Taten, ohne Zweifel zu äussern, der Opposition zuschiebt).
In der Einleitung fasst Kurt O. Wyss sein Engagement so zusammen: «Wiewohl die Politik der Amerikaner sowie ihrer Adlaten im Vorderen Orient von einer Katastrophe in die nächste schlittert, ist es schwer verständlich, dass die europäischen Entscheidungsträger all diese Zusammenhänge kaum sehen wollen.»
Also: ein Appell, einerseits gut dokumentiert, anderseits dann doch von sehr viel Einseitigkeit geprägt.
Kurt O. Wyss: Die gewaltsame amerikanisch-israelische «Neuordnung» des Vorderen Orients. Vorwort von Karin Leukefeld. Léry-Verlag, Bern, 310 Seiten