Issue-Mangement ist ein vergleichsweise neuer Fachausdruck für die Art und Weise, wie Unternehmen auf die Anliegen – Issues – ihres gesellschaftlichen Umfeldes reagieren. Ein anderer Ausdruck dafür ist Reputationsmanagement. Im Kern geht es also darum, das Image eines Unternehmens zu schützen oder sogar zu verbessern. Denn der Marktwert der Produkte kann ins Bodenlose stürzen, wenn der Ruf des Unternehmens ruiniert wird. Und wer will schon in einer miesen Firma arbeiten? Rekrutierungsprobleme oder Kündigungen der besten Leute setzen ebenfalls Schäden.
Der Witz am Issue-Management ist, dass es auf die modernen, extrem schnellen Kommunikationsmittel abgestellt ist. Telefonate und E-Mails muten gegenüber Social Networks wie Facebook schwerfällig an. SMS und vor allem Twitter ermöglichen heute innerhalb von Minuten die Verbreitung von Nachrichten in ganz grossen Kreisen. Das ist es, was die Unternehmen fürchten: eine Meldung auf Twitter über einen Umweltskandal, ungefiltert und viel zu schnell, um ihr mit einer wohl erwogenen Erklärung der Presse- oder PR-Abteilung die Spitze zu nehmen.
Legitimität durch Verfahren
Unternehmen können auch deshalb vergleichsweise flexibel agieren und vor allem reagieren, weil ihre Organisationen wie MP3-Player funktionieren. Das hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett beobachtet. Entsprechend gibt es keine festen Dienstwege oder Hierarchien mehr. Wenn es irgendwo brennt, löscht der, der am dichtesten am Brandherd steht. Natürlich werden Szenarien dieser Art vorher geübt und Notfallpläne mit der Festlegung von Verantwortlichkeiten erarbeitet. Das ändert aber nichts daran, dass wie in einem MP3-Player Reihenfolgen der „Titel“ beliebig neu gemischt werden können.
Politik funktioniert anders. Jahrzehntelang hat man „die Legitimität durch Verfahren“ hervorgehoben. Für die Gesetzgebung, für die Administration und auch für die Grundlinien der Politik gilt, dass diese nach ganz genau definierten Prozeduren festgelegt werden müssen. Genügt ein Gesetz dieser Anforderung nicht, kann es angefochten werden.
Die Stars in den politischen Manegen versuchen im Zeichen der „Mediokratie“ einen anderen Eindruck zu erwecken. Demgemäss sind sie es, die im Zweifelsfall über alle Gremien hinweg kühne Entscheidungen treffen. Die traurigsten Beispiele dafür liefern Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi.
Vom Protest zum Event
Die politische Klasse trägt eine Mitschuld daran, dass sich in der Öffentlichkeit ein Politikverständnis durchsetzt, das mit der parlamentarischen Demokratie nicht mehr viel zu tun hat. Im Grunde ist dies ein autoritäres Verständnis. In ihm schimmert die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ oder heutzutage eher der „starken Frau“ durch, die resolut zum Nudelholz greift.
Immer häufiger kommt es vor, dass sich Menschenmassen versammeln, um in Protests, Blockaden oder wie auch immer gearteten Streiks politische Massnahmen rückgängig zu machen. Das gilt bei Ausgabenkürzungen allgemein, Kürzungen von Renten- oder Sozialleistungen und bei Grossprojekten wie Stuttgart 21. Soziologen sprechen inzwischen von „Eventisierung“. Gemeint ist damit, dass sich um ein Ereignis herum Widerstand bildet, der dann selbst wieder zum Ereignis wird.
Restrisiko ungewiss
Der Trendforscher und Philosoph Norbert Bolz stellt, fest, dass sich das Gleichgewicht der Kräfte verschiebt. "Das wird sich immer weiter dramatisieren. Immer häufiger werden die Leute von sich aus politische Fakten schaffen und werden sagen: Das ist die Meinung des Volkes. Wir haben das durch Selbstorganisation stabilisiert. Die Massenmedien werden darüber berichten, weil es eine Sensation ist. Ich glaube, dass die traditionelle Politik damit nicht zurechtkommt."
In der konservativen FAZ beschreibt Dieter Baretzko in der Online-Ausgabe vom 16. Oktober 2010 den Protest gegen Stuttgart 21 als sehr sinnvoll. Denn bei diesem Projekt werden Risiken eingegangen, die nicht verantwortet werden können. Der Untergrund von Stuttgart ist von Quellen durchzogen und mit Mineralien durchsetzt, die sich in Verbindung mit Wasser stark ausdehnen. Zudem macht das Grundwasser Probleme. Aufwendige Draignagen und Pumpanlagen sind eingeplant – Restrisiko ungewiss.
Allgemein zugängliches Wissen
Dieter Baretzko beschreibt die Protestler als informierte Bürger, deren Wissenstand keinesfalls unter dem der Planer und Politiker liegt. Auch das ist eine Wirkung der modernen Informationstechnologie. Man kann sich über Geologie und Technik ebenso schnell und durchaus seriös informieren wie über die Unfälle, die in ähnlichen Konstellation bereits aufgetreten sind:
„1988, beim Bau des Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe, brach ein Wohnhaus wegen Grundwasserabsenkung zur Hälfte ein. In München stürzte 1994, wobei zwei Personen starben, ein Bus in einen unfertigen U-Bahn-Schacht, als dessen wassergeschädigte Decke nachgab. Im Juni 2008 sackten in Amsterdams Altstadt Häuser durch Sinken des Grundwassers infolge von U-Bahn-Bauarbeiten bis zu 23 Zentimeter tief ab. Zwei Todesopfer forderte im März 2009 der Einsturz des Kölner Stadtarchivs neben einer U-Bahn-Baustelle; Abpumpen von Grundwasser gilt inzwischen als Ursache“, so Baretzko.
Ratlose Kommentatoren
Der Ausdruck der Eventisierung kann allerdings eine Gefahr verschleiern. Sie besteht darin, dass die Politik immer kurzatmiger wird, weil sich kein Politiker mehr auf Konzepte einlässt, die auf der Strasse schlicht und einfach eliminiert werden. Schlimmer noch: Was geschieht, wenn eine Gruppe mit ihren Protesten nicht zum gewünschten Erfolg kommt? Wird sie dann nicht zu stärkeren Mitteln greifen?
Die Kommentatoren sind ratlos. Manche verweisen auf das Modell der Schweiz mit ihren Volksabstimmungen. Daran ist sicher etwas Richtiges. Aber „Eventisierung“ bedeutet auch Spontaneität. Dem ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, wird der Satz zugeschrieben: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ Was geschieht, wenn durch immer kürzeres Denken auch die Abstimmungen von gestern nicht mehr interessieren?
Die herkömmlichen politischen Denkschulen teilen eine Voraussetzung, über die man nicht gern spricht und die auch absolut unpopulär ist: Wo Menschen zusammenkommen, droht Gefahr. Die modernen Wohlfahrtsstaaten mit ihrem jeweiligen Gewaltmonopol haben dieses Problem so gut gelöst, dass es nahezu vergessen ist. Um so wichtiger wäre es seitens der Politik, die ausgleichende Kraft demokratischer Verfahren erneut zur Geltung zu bringen.