Eigentlich gelten die Weihnachtstage als Zeit der Einkehr, des Nachdenkens, des Distanznehmens. Als Zeit, in der die Dinge, auf die man im Alltag fixiert ist, in den Hintergrund treten und Raum geben, eben diese Dinge aus anderer Perspektive zu betrachten. Vielleicht wird man dazu animiert durch eine Radiopredigt oder gar durch einen Kirchgang. Möglicherweise hat sich auch diese Leserin oder jener Leser die Weihnachtspredigt im journal21 zu Gemüte geführt, in der die Pfarrerin des Berner Münsters, Maja Zimmermann-Güpfert, über «träumende Männer» (u.a. Josef) nachdachte.
In unserer kleinen, friedliebenden Schweiz haben zahlreiche Männer (und Frauen), die immer ganz genau wissen, was gut und was schlecht ist, allerdings nicht geträumt. Vielmehr haben sie in den Medien und auf den «elektronischen Dorfplätzen» auf die Finanzministerin eingedroschen. Das ganze Fuder an Verachtung und Hass, das auf Widmer-Schlumpf niederging, ist verräterisch, der Eifer, mit dem ihre Entmachtung postuliert wurde, geradezu inquisitorisch. Das alles zeigt nur, wie verunsichert ihre Kritiker sind.
Wer zu spät kommt…
Offenbar gibt es noch immer Denkverbote. Einer bürgerlichen Politikerin ist der Gedanke, dass sich die Institution Bankgeheimnis möglicherweise überlebt hat, nicht erlaubt, geschweige denn, diesen Gedanken öffentlich anzudeuten. Unbestreitbar ist, dass es auf dem weiten und fintenreichen Feld der Politik Überzeugungen, Leitplanken, Prinzipien braucht, damit nicht alles aus dem Ruder läuft. Ebenso unbestreitbar aber ist, dass Gewissheiten sich ihres Sinnes entleeren, Argumente nicht mehr überzeugen, Selbstverständlichkeiten aus der Zeit fallen können.
Solche Brüche, grössere und kleinere, gibt es in der Geschichte zuhauf. «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» So redete Michail Gorbatschow 1989 dem Genossen Erich Honecker ins Gewissen, der sich dogmatisch an seinen aus der Zeit gefallenen Überzeugungen festklammerte. Noch etwas weiter zurück liegt eine markante Wende in Frankreich. Als François Mitterrand 1981 für die Präsidentschaft kandidierte, plädierte er im Wahlkampf für die Abschaffung der Todesstrafe. Sein Argument: Das Fallbeil ist nicht mehr zeitgemäss. Mit dieser Forderung ging der sozialistische Kandidat ein Risiko ein, denn der (wenn auch seltene) Gebrauch des Fallbeils war für breite Kreise des Volkes wie der konservativen Elite eine alte, festverankerte Tradition.
…den bestraft das Leben
Auch in der behüteten, in sich selber ruhenden Schweiz gab es immer wieder solche Wendepunkte. Der Kampf um die Einführung des Frauenstimmrechts dauerte lange, sehr lange sogar. Aber eines Tages waren die Argumente der Gegner einfach nicht mehr ernstzunehmen. Ein weiteres Beispiel ist der Verzicht auf das Atomkraftwerk Kaiseraugst. Als Ende der 1980er Jahre immer deutlicher wurde, dass sich das AKW kaum noch realisieren liess, reichten bürgerliche Parlamentarier eine Verzichts-Motion (mit Anspruch auf Entschädigung) ein. In der Debatte vom 8. März 1989 erklärte Christoph Blocher vor dem Nationalrat:
«Wir müssen Kaiseraugst erledigen. Wir haben einen Weg aufgezeigt. Dieser Weg ist die Folge einer gründlichen Lagebeurteilung. Der Weg ist der Ausgang aus einer schwierigen Situation. Es ist ein Weg, diese schwierige Situation rasch, fair und staatspolitisch einwandfrei zu lösen. Vielleicht gäbe es einen anderen Weg, nur hat den noch niemand aufgezeigt.»
Heute sieht sich die Schweiz, was die verzweifelte Rettung des Bankgeheimnisses bzw. seiner Restbestände betrifft, in einer noch schwierigeren Situation, weil ihr als Kontrahenten ausländische Regierungen, die EU oder die OECD gegenüberstehen und sie sich den «Ausgang aus der schwierigen Situation» nicht autonom zurechtlegen kann. In Anbetracht dieser Tatsache mögen die strammen Parteipräsidenten und Stammtischpolitiker noch so heftig schimpfen und drohen und warnen vor dem Einknicken. Sie hätten ja alle recht, wenn es um ethische oder moralische Werte wie die Menschenrechte ginge, die es durch alle Böden zu verteidigen gilt. In diese Kategorie gehört das Bankgeheimnis nicht, denn es dient hauptsächlich der Steuerhinterziehung. Daran ändert auch nicht, dass es ihre Verteidiger ständig zur «Privatsphäre des Bürgers» schönreden. Es ist vielmehr eine Einrichtung, die aus der Zeit gefallen ist – und der viele Männer (und Frauen) auf ihre Weise nachträumen.
So gesehen, offenbart die Kritik an Widmer-Schlumpf nichts als Verlegenheit. Damit aber lässt sich kein Problem lösen.