„E kleins kengele“ hätte ich bei ihr sein wollen. Die kengele, die jungen Kaninchen, bekamen von Suzanne jeden Morgen eine Schoggimilch. „Das trinken sie am liebsten“, sagte sie. Doch so liebevoll gefüttert und gehegt in der Jugend, so selbstverständlich galt „Kopf ab und Fell weg“, wenn Gewicht und Alter stimmten. Dann tropfte das Blut im Schopf aus und am Sonntag gabs Hasenbraten.
Wissbegierig, wach und schnell im Kopf war Suzanne. „Joseph, wo ist Australien?“ fragte sie, als wir einmal vom fünften Kontinent redeten. Dann kleinlaut: „Wir haben in der Schule in Deutschland doch gar nichts gelernt.“
Im Juli wird Suzanne 78. An die kengele erinnert sie sich nicht mehr. Alzheimer. Die Weinbäuerin aus dem Sundgau hat ihr Leben vergessen. Und mit ihm ein Stück Elsässer-Geschichte, das ohnehin wenig bekannt ist.
Strassburg eine Geisterstadt
Wer weiss noch, dass fast eine halbe Million Frauen, Kinder und nicht wehrpflichtige Männer aus dem Elsass nach Südwestfrankreich evakuiert wurden? In die Dordogne, ins Périgord. Schon bevor Frankreich Deutschland am 3. September 39 den Krieg erklärte, glich Strassburg einer Geisterstadt. 79 leer geräumte Dörfer und Weiler im Ober- und 107 im Unterelsass listet René Meyer in seiner Untersuchung „L’évacuation, une tragédie frontalière“(1) auf. Dazu kamen 231 im Département Moselle in Lothringen. Sie alle lagen zu nah entlang der Grenze zum Rhein oder zur Maginot-Linie.
Diese gigantische Befestigungsanlage sollte mit 60 grösseren und kleinern Festungen, mit 400 Einzelbunkern und über 200 km Stollen, Schächten und Kasematten jeden Angriff des deutschen Feindes abwehren. Für eine Bevölkerung blieb im Ernstfall in dieser gefährdeten Zone kein Platz. Also weg bringen. - In einer zweiten Phase mussten im Mai/Juni 1940 noch einmal mehr als 120'000 Menschen ihr Heim verlassen.
Das Elsass als Zankapfel
Geheime Pläne für die gross angelegte Evakuierung wurden in Paris nach 1936 ausgearbeitet. Der Grund dafür war der Einmarsch der deutschen Armee ins entmilitarisierte Rheinland. Elsass/Lothringen als Zankapfel, als Schlachtfeld. Das hat Tradition. Hier gingen unzählige Beherrscher ein und aus: nach Kelten und Römern die Alemannen, die Franken, die schwäbischen Hohenstaufer, die Habsburger, Karl der Kühne. Im 30-jährigen Krieg verwüsteten schwedische Truppen das Land, danach hatte die französische Krone das Sagen. Das kulturelle Leben von Strassburg blieb aber deutsch.
Napoleon stiess auf Gegenliebe, aber nach der Niederlage von 1870/71 war wieder Deutschland dran. Jetzt sollte das Elsass „entwelscht“ und „eingedeutscht“ werden. Ab 1914 dienten über 200'000 Elsässer – oft gegen ihren Willen – in der deutschen Armee, 20'000 kämpften als Freiwillige auf französischer Seite. 1918 ging der Zankapfel retour an Frankreich. Ab sofort war alles Deutsche verpönt, der elsässische Dialekt inklusive. 48 Stunden gewährte man den Einwohnern am 1. September 39, ihre Häuser und Höfe zu verlassen.
Das Vieh der Bauern blieb zurück. Sorgte sich der Staat derart um die Sicherheit seiner compatriotes oder traute er ihrer Treue zu Frankreich nicht so recht? Beide Thesen stehen im Raum. Unbestritten ist hingegen, dass die ganze Operation auf grosse Strecken chaotisch verlief. Im Périgord und in der Dordogne war man schlecht auf die Flüchtlinge aus dem fernen Elsass vorbereitet, die Verständigung klappte oft nicht und ihres germanischen Dialektes wegen wurden sie prompt als „boches“, als Deutsche, tituliert. Auf die „Ya-ya“ hatte niemand gewartet. Kam hinzu, dass dieser Landesteil viel ärmer und rückständiger war als das Elsass. In vielen Häusern gab es noch keine Toiletten, keine Kochherde und die Bevölkerung war mehrheitlich antikatholisch. Das führte zusätzlich zu Spannungen.
Die Zeit nach dem "Blitzsieg"
Die Nachrichten aus der Heimat waren auch nicht gut. Man erfuhr von Plünderungen, Diebstahl und Zerstörungen in der Heimat. Nur vom deutschen Feind, um dessetwillen man alles hatte verlassen müssen, war nichts zu sehen.
Neun Monate dauerte die „drôle de guerre“. Dann griffen die Deutschen Ende Mai 1940 Frankreich an. Hauptstossrichtung: nicht, wie erwartet, auf Höhe der Maginot-Linie und vom Rhein her, sondern via Belgien und die Ardennen. Deutscher Blitzsieg, Waffenstillstand am 22. Juni.
Jetzt wehte ein anderer Wind. Im Einvernehmen mit den Deutschen befand die Regierung Pétain, dass die Elsässer nach Hause zurückkehren sollten. Heim ins Reich, sozusagen. Hier sorgte Gauleiter Robert Wagner dafür, dass das Elsass in kürzester Zeit porentief durchgermanisiert wurde. Eheringe mussten jetzt an der rechten Hand getragen werden, die Kinder in der Schule Sütterlin-Schrift schreiben. Des Führers Konterfei ersetzte das Kruzifix, die Schulbücher wurden arisch durchtränkt. Alles Französische, selbst die Baskenmütze, war strengstens verboten.
Rekrutierung "malgré nous"
Suzanne und ihre Familie wurden nicht evakuiert. Sie ist im Sundgau, dem südlichsten Zipfel des Elsass und nahe zur Schweiz, aufgewachsen. Ihre Welt blieb – von der Mobilmachung der Wehrpflichtigen am 3. September 39 abgesehen - vorerst leidlich heil. Dann kam ein anderes Drama zur Aufführung: Unterstand das Elsass – gemäss Waffenstillstandsabkommen – offiziell „nur“ der deutschen Verwaltung, wurde es im Sommer 41 de facto annektiert. Denn ein Mangel an Soldaten zeichnete sich ab.
Im Mai 42 wurde die Dienstpflicht für die elsässische Bevölkerung eingeführt. Ab Ende August auch die Wehrpflicht. Suzannes ältester Bruder wurde zwangsverpflichtet und mit ihm Tausende junger Männer. Die „malgré nous“ - sinngemäss: gegen unsern Willen – kamen erst zum „Reichsarbeitsdienst“, danach zur Wehrmacht und an die russische Front. Oder sie desertierten, wie Suzannes Bruder. Und weil sich viele Elsässer weigerten einzurücken und untertauchten, galt Sippenhaft. Suzannes Familie wurde nach Deutschland deportiert, die Eltern mussten in einem Arbeitslager schuften, für die Kinder gabs Hunger und eine notdürftigste schulische Betreuung.
Wo genau sich das Arbeitslager befand, kann Suzanne nicht mehr sagen. „In der Nähe von Dresden“, weiss ihr Mann. Und: „Sie hörte die Bomber kommen und sah den flammend roten Himmel, als die Stadt brannte. Seither hat sie panische Angst vor Flugzeugen.“ Sein eigener Bruder wurde als Kampfflieger von den Deutschen abgeschossen, überlebte dank Fallschirm und schlug sich zum Widerstand in den Maquis durch. Doch er wurde aufgegriffen und bei der deutschen Flak zwangsverpflichtet. Flucht und erneute Verhaftung. Er starb unmittelbar vor Kriegsende im KZ Mauthausen.
Viel später ist Suzanne mit ihrem Joseph Weinbäuerin geworden. Keine arme. Doch sie lehrte mich, wie man aus alten abgetragenen Herrenhemden Taschentücher näht. Und alle Ess-Resten auf mögliches Hühnerfutter untersucht. Dass man am Wegrand alle „butten“ sammelt und daraus (nach mühseligem Auskratzen) Hagebuttenkonfitüre kocht. Oder frühlingsgrüne Grasbüschel für die Kengele nach Hause trägt. Am 7. Mai 2005 wollten wir zusammen auf 60 Jahre Kriegsende anstossen. Suzanne mochte nicht. Sie hat nur geweint. Zum 66. Jahrestag weiss sie nichts mehr davon.
(1) Aus: „Saison d’Alsace“ No. 105, Automne 1989. Edition La Nuée Bleue, Strasbourg.