Das Eingangsreferat hielt André Marty, der zunächst sein Bedauern darüber ausdrückte, dass nicht Arnold Hottinger an seiner Stelle sprach. Ganz offensichtlich stellte der erfahrene Journalist und Moderator der Schweizer „Tagesschau“ - seit November 2010 - sein Licht unter den Scheffel. Recht brav begann er, die Konfliktlinien im Maghreb zu skizzieren. Das hatte man alles schon gehört. Fast unmerklich drehte Marty dann aber das Blatt und las den Zugern an ihrem schönen Finanzplatz die Leviten.
Das Problem sei, dass der Westen bislang alles dafür getan habe, um die Diktatoren abzustützen. So fürchte Europa nichts mehr als die Migration und habe für das „externe Gatekeeping“ 50 Millionen Euro an Gaddafi gezahlt. Gemeint ist damit, dass der Diktator Geld dafür bekommt, Migranten schon in seinem Land am Besteigen der Boote zu hindern. Dass dabei übelste Methoden angewendet werden, interessiert in Europa nicht.
Anlass zur Selbstbefragung
Der andere neuralgische Punkt ist das Öl. Marty schonte sein Publikum, indem er nicht erwähnte, dass Zug welteit nach New York einer der grössten Umschlagplätze für Rohöl ist. Aber er machte ganz klar, dass Europa wie auch Amerika sich in „politischer Scheinheiligkeit“ ergehen, um nur ja den ungestörten Nachschub an Öl zu sichern. Diesen Nachschub haben die bisherigen Diktatoren gewährleistet, und es ist keineswegs sicher, dass die Fortsetzung dieser Politik der sehnlichste Wunsch derjenigen ist, die sich jetzt anschicken, die politische Agenda zu bestimmen.
Ein Drittel der Ölexporte aus dem Nahen und Mittleren Osten gehen durch die Strasse von Hormus. Was ist, wenn die blockiert wird? Das können die Europäer sich ebenso wenig vorstellen wie die Motive, die für die im einzelnen sehr unterschiedlichen Gruppen der Aufständischen essentiell sind. So müssten wir endlich begreifen, dass anders als bei früheren revolutionären Bewegungen nicht irgendwelche Personen im Vordergrund stehen, die über kurz oder lang Kultstatus erlangen, sondern die extreme Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit sei das Streben nach Würde, Gleichheit und Identität verbunden.
„Wir verstehen nicht, was im Moment geschieht“, sagte Marty. Uns fehlt eine angemessene Aussenpolitik, unser Demokratieverständnis ist fragwürdig, weil wir Demokratie zwar für uns in Anspruch nehmen, nicht aber für andere, und es mangelt uns entsprechend an Ehrlichkeit. Mit anderen Worten: Die Aufstände im Nahen Osten sind für uns Anlass für eine intensive Selbstbefragung. Ziel müsse eine „neue Ehrlichkeit“ sein.
Was geschieht im Vakuum?
Damit war die Diskussion unter Leitung des Werbepsychologen Werner Schaeppi eröffnet, und der Ball lag bei Arnold Hottinger, der in diesem Jahr 85 wird. Ohne Umschweife stellte er fest, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter geöffnet und die Repression zugenommen habe, so dass es im Nahen und Mittleren Osten nur eine Frage der Zeit gewesen sei, wann die „Machtblase“ platze. Diese Machtblase sei wie unsere Finanz- und Börsenblase.
Dieses Bild des Platzens der Blase gab Marti den Anstoss, darauf hinzuweisen, dass es über die ganze Region hinweg keinen gemeinsamen politischen oder kulturellen Nenner gibt. Etwas ungenau liesse sich von einem Vakuum sprechen. Wer tritt an die Stelle der alten Machteliten? Und Marty machte darauf aufmerksam, dass trotz aller Aufstände und revolutionärer Umtriebe der Alltag weitergeht und zum Beispiel so banale Dinge wie Verkehrsunfälle einer Klärung bedürfen.
„Man weiss immer genau, was man nicht will“, ergänzte Hottinger und brachte damit das Problem einer neuen Ordnung auf den Punkt. Das arabische Drama, so Hottinger, bestehe auch im Niedergang einer einst blühenden Kultur, „als Europa noch vom Wald bedeckt war, in dem sich ein paar Missionare tummelten.“ Von diesem Niedergang habe sich die Region bis heute nicht erholt. Darüber könnten auch die viel gepriesenen sozialen Netzwerke und das Internet nicht hinweg täuschen. In Ägypten werde zum Beispiel der Hass zwischen Christen und Muslimen im Internet geschürt.
Religion und Demokratie
André Marti machte Israel dafür verantwortlich, dass sich der Nahe Osten von seinem Niedergang bis heute nicht erholt hat, und Hottinger verwies ebenfalls auf die wirtschaftlichen Interessen des Westens, die „den Interessen der Menschen“ dort entgegenstehen. Sollten sich in den USA die Republikaner durchsetzen, werde die bisherige engstirnige Politik fortgeführt, mit Obama bestehe wenigstens eine schwache Hoffnung auf die eine oder andere „Geste guten Willens“.
Hottingers Stichwort vom Niedergang der arabischen Kultur in der Neuzeit gab den Blick auf die zunehmende Schwäche Europas frei. Marty machte auf den demographischen Wandel aufmerksam, der die Machtverhältnisse nachhaltig verändern wird. Auch unterschätzten wir den Bildungsstand der zahlreichen Universitätsabsolventen. Innerhalb weniger Jahre habe sich überdies die Einstellung gegenüber Europa verändert: „Es ist nicht mehr witzig, mit einem Schweizer Pass unterwegs zu sein.“ Die Menschen wüssten heute sehr wohl, wer von ihrer Misere profitiert habe.
Hottinger sprach vom „überprivilegierten Westen“ und machte klar, dass unsere Demokratiemodelle für die Aufständischen und Revolutionäre als Vorbild nicht unbedingt tauglich sind. Aber er zog einen aufschlussreichen Vergleich. Wenn es je zu einer stabilen neuen Ordnung kommen solle, müsse wie in der Türkei das Militär freiwillig Macht an die demokratischen Institutionen abgeben und es müsse gelingen, die Religion in die Demokratie einzubinden. „In Europa“, so Hottinger, „geschah das in einem langen und blutigen Prozess. Wir denken heute nicht mehr daran, weil die Einbindung der Religion am Ende gelungen ist und jetzt funktioniert.“