«Europa hat nur dann eine gesunde Gesellschaft, wenn jüdisches Leben ohne Bedrohung existieren kann», sagt Katharina von Schnurbein.
Sie teilt diese Auffassung mit Deborah Lipstadt. Die amerikanische Holocaust-Forscherin, die einen Prozess gegen einen Holocaust-Leugner gewann, sei kürzlich in Brüssel gewesen und habe in einer Diskussion mit dem ersten Vizepräsidenten der Europäischen Kommission über die Motivation zur Antisemitismus-Bekämpfung gesprochen: Es genüge nicht, sagte Lipstadt damals, den Kampf nur deshalb zu führen, um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen oder der jüdischen Gemeinschaft einen Gefallen zu erweisen, sondern es gehe um die Bekämpfung einer Gefahr für die demokratische Gesellschaft, in der wir leben.
Als Deutsche in besonderer Verantwortung
Katharina von Schnurbein ist eine an mehreren europäischen Universitäten ausgebildete Geistes- und Sprachwissenschafterin. Wie kam es dazu, dass sie sich seit mehreren Jahren im Auftrag der Europäischen Kommission so aktiv und intensiv im Kampf gegen Antisemitismus engagiert? «Schon im Elternhaus war die deutsche Vergangenheit stets ein Thema, ein Teil des Familienlebens, auch angesichts jüdischer Freunde. Als Deutsche, so finde ich, trage ich eine besondere Verantwortung.
Das reicht aber nicht aus, um mich gegen den Antisemitismus einzusetzen. Es geht mir auch darum, Europa voranzubringen.» Der Hass auf die Juden steige immer dann, sagt sie, wenn sich die eigene Situation verschlechtert. Dann sei «der Andere» Schuld, und das waren in Europa immer zuerst die Juden. Die Geschichte lehre uns, wenn es gegen die Juden ging und geht, dann sei das immer schlecht für Europa.
Griffige Instrumente
Als Antisemitismus-Beauftragte der Europäischen Kommission heisst Katharina von Schnurbein jedes Instrumentarium willkommen, das im Kampf gegen den Antisemitismus eingesetzt werden kann. Sie nennt besonders die im Mai 2016 einstimmig angenommene, allerdings nicht rechtsverbindliche Arbeits-Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance): «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.» Darüber hinaus seien die Beispiele der Definition, welche die verschiedenen Formen des Antisemitismus, inklusive des aus Kritik an Israel abgeleiteten, zu benennen.
Auch der Europäische Rat habe sich im Dezember 2018 mit den Stimmen aller Mitgliedstaaten energisch für den Kampf gegen den Judenhass ausgeprochen und sich auf die Seite der jüdischen Gemeinschaft gestellt. Die EU-Mitgliedstaaten wurden in dieser Deklaration aufgefordert, zum Beispiel die Sicherheit der jüdischen Gemeinden zu übernehmen. Die Verhandlungen zu dieser Deklaration fanden während der österreichischen EU-Präsidentschaft statt. «In Wien wird besonders deutlich, welchen Verlust, auch auf kulturellem Gebiet, die Schoah verursachte.» Jetzt, da nicht mehr viele Zeitzeugen unter uns weilen, müsse man die zweite Generation viel stärker in den Diskurs einbringen.
40 Prozent der Juden denken an Auswanderung
Sorgen bereitet der Expertin eine umfassende Studie der Agentur für Grundrechte in Wien, die Ende 2018 vorgestellt wurde und auf einer Umfrage bei 16’300 jüdischen Personen in 12 europäischen Staaten beruht. 40 Prozent der jüdischen Bevölkerung gaben an, im vergangenen Jahr überlegt zu haben, Europa zu verlassen. «Wenn man nur schon darüber nachdenkt, ist das eine Bankrotterkärung für Europa», mahnt Katharina von Schnurbein.
Es geht auch immer um die Identität. Der Holocaust ist ganz sicher Teil der Identität der jüdischen Gemeinschaft, aber auch Erez Israel ist ein Teil davon. Es gehe jedoch nicht an, dass Juden in Europa immer wieder verantwortlich gemacht werden für die Regierung des jüdischen Staates und daraus ebenfalls Antisemitismus entstehe. Die jüdische Bevölkerung Europas müsse sicher sein, dass der Staat, in dem sie wohnen, auf ihrer Seite steht: «Wird ein jüdisches Kind in einer Schule geplagt, so muss sofort eingeschritten und dieses Mobbing nicht auf den Nahostkonflikt abgeschoben werden.»
Bildung und öffentlicher Diskurs
Zum Fahrplan der EU-Beauftragten für die nächsten Jahre gehören vordringlich die Bildung über jüdisches Leben und das Erinnern an die Schoah sowie der öffentliche Diskurs über die gesamte Thematik. Sie hat eine Arbeitsgruppe gebildet, die dafür sorgen wird, dass die Deklaration des Europäischen Rates in den einzelnen Staaten nicht in einer Schublade verschwindet, sondern in eine nationale Strategie umgesetzt wird, die auch Polizei und Justiz umfasst. Sie erwähnt Deutschland, wo es nicht nur einen nationalen Antisemitismus-Beauftragten gibt, sondern auch solche auf Länderebene. Die gegenwärtige rumänische EU-Präsidentschaft arbeite hier mit.
Die Wahrnehmung des Antisemitismus ist laut Studien nicht in jedem EU-Staat gleich. Die Schweiz, die nicht zur EU gehört, sei Mitglied im Europäischen Jüdischen Kongress EJC, und sie arbeite mit dem Schweizer Vizepräsidenten Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG, eng zusammen. «Eine meiner Hauptaufgaben», sagt sie, «ist der Austausch mit jüdischen Gemeinden.» In den schweizerischen Gemeinden wird man gerne zur Kenntnis nehmen, dass die EU-Beauftragte strikte dagegen ist, dass die jüdischen Gemeinden die Aufwendungen für ihre Sicherheit selber tragen müssen.
Zunehmende antijüdische Gewalt
Sicherheit ist ein wichtiges Stichwort. Zählt man Russland dazu, gibt es in Europa 1,5 Millionen Juden, allein in Frankreich eine halbe Million. Dort aber gibt es bereits 5,5 Millionen Muslime. Wie Studien zeigen, sind antisemitische Vorurteile unter Muslimen zwei bis drei Mal stärker verbreitet als in der Gesamtgesellschaft. Auch das muss angepackt werden, sagt sie. Es gebe aber auch in mehreren europäischen Staaten, im Osten wie im Westen, eine zunehmend gewaltbereite politische Richtung von rechts, die ebenfalls Gefahren bewirken kann. «Wir müssen wach bleiben und genau hinschauen», ist Katharina von Schnurbein überzeugt.
Eine heikle Aufgabe ist es, die Betreiber sozialer Medien davon zu überzeugen, antisemitische und volksverhetzende Posts zu entfernen. Bei Interventionen von NGOs, sogenannten «trusted flaggers», funktioniere die Löschung schneller und besser, als wenn Einzelnutzer Hassreden melden. Aber es gehe nicht nur um Löschung von Posts und die Verantwortung der sozialen Medien, es müssten auch die Täter gefasst und vor Gericht gestellt werden: «Antisemitismus ist in er virtuellen Welt so strafbar wie in der realen.»
Ihr Arbeitsalltag im Kampf gegen den Antisemitismus ist eine wahre Sisyphusarbeit. Katharina von Schnurbein lacht: «Dieses Problem existiert schon seit 2000 Jahren. Wir brauchen einen langen Atem. Aber wir haben guten Willen und gute Instrumente. Nun müssen noch alle EU-Staaten ins Bootgeholt werden.»
Eine Version dieses Artikels erschien am 22. Februar 2019 im jüdischen Wochenmagazin «Tachles».