„Geländeroman“ nennt Esther Kinsky ihr jüngstes Werk „Hain“, für das sie im März mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 ausgezeichnet wurde. Dem aktuellen Buch sind Romane, Lyrikbände und Essays vorausgegangen. Ursprüngliches Arbeitsfeld der am Rhein aufgewachsenen Autorin ist jedoch das Übersetzen: Sie hat Slavistik studiert und lange in England gelebt. Mit Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen hat sie ihren Ruf in der Literaturszene begründet. Und nicht zu vergessen: Esther Kinsky ist eine ausgezeichnete Fotografin und hat ihre Bilder auch publiziert, so etwa im Gedichtband „Naturschutzgebiet“ (2013).
Das Fotografieren spielt in ihren Romanen mehrfach eine Rolle. In „Hain“ benutzt die Ich-Erzählerin eine analoge Kamera. Die belichteten Filme sind Sinnbilder für die beim Reisen gesammelten Erfahrungen, die erst durch die spätere Transformation im Entwicklerbad der Sprache erkenn- und lesbar werden.
Die Reisen und Aufenthalte in fremden Gegenden generieren zwar stets den Stoff von Kinskys Romanen. Trotzdem ist sie keine Reiseschriftstellerin; ihre Kunst des Beobachtens von Umwelt und Landschaft stempelt sie auch nicht zur Naturschriftstellerin. Was ihre Bücher besonders und einzigartig macht, ist ihre Fokussierung auf die Entstehung von Sprache. Esther Kinskys Prosa ist das Ergebnis eines Er-Findens von Wirklichkeit. Um diesem Prozess Raum zu geben in ihren Texten, handeln diese zumeist von Unscheinbarem, Beiläufigem. Ihre Aufenthalte und Reisen spielen sich stets in Randzonen, an Unorten, in vergessenen Revieren ab.
„Banatsko“ und „Am Fluss“
Im Roman „Banatsko“, erschienen 2011, war es das serbisch-ungarisch-rumänische Grenzgebiet, wo in vergessenen Dörfern und verschlafenen Städtchen die Zeit träge dahinfliesst. Bei diesem Buch hat Esther Kinsky einen Ton gefunden, der aufhorchen liess. Sie spricht von fast nichts, und das auf eine Weise, die einen nicht loslässt. Spätestens dieser Roman machte klar, dass da eine grosse Schriftstellerin angetreten war. Sie hatte mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller nicht nur die beschriebene Ecke Europas gemeinsam; es zeigte sich auch eine Verwandtschaft in der schriftstellerischen Haltung und sprachlichen Dichte.
Die zwanzig in London verbrachten Jahre Esther Kinskys sodann sind aufgehoben in „Am Fluss“ (2014). Der Titel meint den River Lea, das am nordöstlichen Rand der Metropole zwischen Industriebrachen, unter Verkehrsbauten und in der Zone von nicht mehr Stadt und noch nicht Land dahinfliessende proletarische Gewässer. Vom Glamour der Hauptstadt mit ihrer extravaganten Kultur und überdrehten Finanzbranche ist hier nichts zu spüren. Der Roman zeigt die Viertel der Nobodies, deren Läden und Kneipen, die verregneten Strassen und den Blick aus Bussen mit beschlagenen Scheiben. Die Bedeutungsarmut der Objekte lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung, und so schafft Esther Kinsky eine Sprache, in der nicht nur das Gesehene, sondern zugleich auch das Sehen erfasst ist.
Kalte Krim und bitterer Tod
Mit ihrem Mann, dem wie sie als Übersetzer tätigen Engländer Martin Chalmers, bereiste Esther Kinsky 2013 die Krim – eine Gegend, von der damals, vor der russischen Okkupation, niemand sprach. Das als Gemeinschaftswerk der beiden geplante Buch „Karadag – Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim“ erschien 2015, nachdem Chalmers gestorben war. Es porträtiert ein zerrüttetes, gelähmtes Land. Überall Niedergang, Zerfall, Perspektivlosigkeit, stumpfe Menschen. Trotzdem fasziniert das Buch, und zwar mit der vor allem bei Esther Kinskys Texten zu spürenden Kraft der Hinwendung zu Menschen, Begebenheiten und Szenerien.
Vielschichtig schreiben heisst bei Esther Kinsky nicht kompliziert schreiben. Ihre Sprache erscheint vielmehr auf den ersten Blick einfacher als sie tatsächlich ist. „Hain“, das neue Buch, spiegelt den Verlust des Gefährten. Der Verstorbene heisst hier „M.“, als ob mit seinem Bild sich auch sein Name verflüchtigte. Er taucht in Träumen der Erzählerin auf, die – sie ist natürlich identisch mit der Verfasserin – um die eigene Rückkehr ins Leben, in den Alltag kämpfen muss. So schafft sie es erst nicht, einen Film in die Kamera einzulegen, was sie zuvor Hunderte Mal gemacht hat. In Andeutungen wie dieser findet sich der Schlüssel zum Verständnis der eigentümlichen Benommenheit, die vor allem über den ersten Kapiteln des Buchs liegt.
Geopoetik und Condition humaine
„Hain“ handelt vordergründig von mehreren Reisen nach Italien: ins ziemlich ausgestorbene Städtchen Olevano Romano östlich von Rom, nach Chiavenna, ins menschenleere Po-Delta, nach Ravenna; hinzu kommen Erinnerungen an Italienreisen in der Kindheit mit dem auf die Etrusker versessenen Vater. Diese Orte und Gegenden bekommen als Sprachwelten Form und Tonalität. Esther Kinsky versieht die Landkarten ihres Lebens mit literarischen Markierungen. Die für „Hain“ erfundene Gattungsbezeichnung „Geländeroman“ steht für ihr schriftstellerisches Verfahren, das man als Geopoetik bezeichnen könnte. Sie ist ihre Weise, sich mit der eigenen Existenz in der vorfindlichen Welt sprachlich auseinanderzusetzen.
Dass Esther Kinsky auch Lyrikerin und Essayistin ist, zeigt sich in ihrer Prosa am Hang zu Dichte und Reflexivität. Sie braucht gar nicht Fakten anzuhäufen, um italienische Zustände sichtbar zu machen; sie schafft dies mit ihrem Rückzug in die tiefste Provinz und ihrer beiläufigen Genauigkeit bei deren Schilderung. Esther Kinskys Aufmerksamkeit gilt bevorzugt dem scheinbar Belanglosen, dem Atmosphärischen und Flüchtigen. Und gerade mit ihrer vom Leiden am Verlust beeinträchtigten Wahrnehmung erfasst sie die defizitäre Welt, die sie umgibt, oft mit erst recht hellwacher Sicherheit. Sie bleibt versponnen in den Schmerz über den Tod ihres Mannes und gefangen in quälenden Erinnerungen an ihren Vater, der ihr zugleich nah und fremd war. Und doch ist sie offen für Orte und Menschen. Im Schreiben über ihr Reisen lotet sie das zur Condition humaine gehörende Paradox zwischen Vertrautwerden und Fremdbleiben aus.
Wie ein angedeutetes Erlösungsversprechen taucht in „Hain“ das Blau des Fra Angelico auf. Ihr Vater hat davon erzählt, dass dieser berühmte „kosmische“ Blauton auf den Bildern des Renaissancekünstlers aus feingemahlenem Lapislazuli gewonnen wurde. Es ist die Farbe des Himmels, der Unendlichkeit, der Ewigkeit. Bei einem der Mosaiken von Ravenna entdeckt die Reisende dann einen Farbton, der das Blau des Fra Angelico gewissermassen vorwegnimmt.
Erwähnte Bücher Esther Kinskys:
- Banatsko. Roman, Matthes & Seitz, Berlin 2011, 243 S.
- Am Fluss. Roman, Matthes & Seitz, Berlin 2014, 387 S.
- Karadag – Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim, mit Martin Chambers, Matthes & Seitz, Berlin 2015, 221 S.
- Hain. Geländeroman, Suhrkamp, Berlin 2018, 287 S.
Foto: Suhrkamp / Insel, © Heike Steinweg