Dabei hat die Armeeführung erklärt, dass sie "vorübergehend" die Macht übernehme. Faktisch befindet sich das Land seither in einem von der Armeeführung gesteuerten Übergangszustand.
Es gibt zwei Mächte: die diffuse, vielfältige und manchmal widersprüchliche der Revolutionäre und die konzentrierte, hierarchisch geordnete und direkt einsetzbare der Armee. Die beiden schienen anfänglich zusammenzuarbeiten. Die Armeeführung hatte versprochen, sie werde das Land so rasch wie möglich in ein völlig demokratisches System überführen. Was ja auch das erklärte Ziel der Revolutionsaktivisten war und bleibt.
Revolutionäre und Armeekommandanten
Doch die Übergangsphase zieht sich hin. Das Nilland aus einer in manchen Bereichen uralten autoritären Struktur in eine funktionierende freiheitliche zu überführen, erweist sich als komplexer und schwieriger, als ursprünglich angenommen. Die Führung an der Spitze, die aus den seinerzeit von Mubarak eingesetzten Armeekommandanten besteht, ist darauf bedacht, einen Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Deshalb erhalten sie die bestehenden autoritären Strukturen im Wirtschaftsbereich aufrecht, während die Neuformierung im politischen Leben nur schrittweise vor sich geht.
Die Träger der Revolutionsbewegung jedoch kommen zu guten, wohl überwiegenden, Teilen aus jenen sozialen Schichten, die die Lasten der autoritären Strukturen nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich tragen mussten. Zum Beispiel, indem alle freien Gewerkschaften verboten waren und aktiv niedergehalten wurden, mit der Folge, dass viele Löhne weit unterhalb des Existenzminimums lagen und immer noch liegen.
Auch solche Missstände wollen die Träger der Revolution "beenden". Doch wenn dies auf einen Schlag geschähe, stünde die Wirtschaft des Landes wahrscheinlich still. Sie beruht auf den geringen Löhnen und ist ganz auf deren Grundlage aufgebaut.
Besserstellung sofort !
Aus Patriotismus so gut wie aus Eigeninteresse stemmen sich die Armeespitzen gegen einen befürchteten wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Armee hängt für ihre - grosszügigen - Geldbezüge von der nationalen Wirtschaft ab, und die Armee ist auch selbst ein wichtiger Unternehmer, der viele Industrien auf eigene Rechnung betreibt.
Doch die Arbeiterklasse und grosse Teile des Mittelstandes sind in Bewegung geraten. Sie agitieren für bessere Löhne und Gehälter. Der Druck der verschiedenen Sicherheitskräfte, die soziale Proteste bisher - nicht ohne Widerstand in den eigenen Reihen - grausam niedergehalten hatten, ist teilweise gewichen. Die berechtigte Ungeduld, bald konkrete Folgen "der Revolution" auch im Bereich des täglichen Lebens zu sehen, greift um sich. Um so mehr, als die Wirtschaft in Folge der Revolutionsunruhen und Unsicherheiten stagniert, die Preise steigen und Arbeitsplätze verloren gehen.
Doch wieder Repression ?
Unter diesen Umständen greifen die Armeespitzen erneut und vermehrt zu dem einzigen Werkzeug, das bisher das Funktionieren der ägyptischen Wirtschaft absicherte, der Repression von allzu "vorlauten" Revolutionären und Gewerkschaftern.
Diese ihrerseits besitzen ein einziges Machtinstrument, das sie zu ihrer Verteidigung einsetzen können, den Protest auf den Strassen. Sie sahen sich veranlasst, am 27.und 28. Juni erneut auf den Tahrir Platz zu ziehen, und sie versuchten, eine "zweite Revolution" auszurufen. Doch sie wurden diesmal zurückgeschlagen. Nicht durch die Polizei sondern durch die sogenannten Zentralen Sicherheitskräfte. Es gab nach Angaben des Gesundheitsministeriums 1114 Verwundete.
Die Polizei ist durch die Revolution demoralisiert und diskreditiert. Die Zentralen Sicherheitskräfte, CSF, sind für den Militädienst ausgehobene Rekruten, die für drei Jahre nicht der Armee, sondern diesen Polizeikräften zugeteilt werden. Die Armee, die sie aushebt, sorgt dafür, dass die Analphabeten, die als Soldaten nicht gerne gebraucht werden, dieser Zentralpolizei zugeteilt werden. Die Sicherheitspolizisten sind kaserniert und erhalten nur einen minimalen Sold, kein Gehalt. Sie dienen in normalen Zeiten als Wächter auf allen Strassen. Sie werden kaum ausgebildet und gelten bei den Ägyptern des Mittelstandes als hilflose arme Teufel. Im Kampf vor dem Innenministerium und um den Tahrir Platz gingen sie jedoch handfest vor. Später wurden sie und das Innenministerium, das sie eingesetzt hatte, laut kritisiert, weil sie keinerlei Methoden für den Umgang mit grossen Ansammlungen von Menschen beherrschten. Der Innenminister musste sich dafüröffentlich entschuldigen.
Ungleiche Behandlung
Die Revolutionäre sagen, sie würden zu neuen Demonstrationen aufrufen. Doch ihre Zahl und Einsatzbereitschaft sind nicht mehr so gross wie zu Zeiten Mubaraks. Ihre erste Forderung ist die Freilassung von Kameraden, die teils ohne Anklage gefangen gehalten werden, teilweise bereits von Militärgerichten wegen "Unruhestiftung" zu Gefängnisstrafen, meistens für drei Jahre, verurteilt worden sind. Dies sind Gefangene, die nach der Vertreibung Mubaraks meist vom Armeegeheimdienst festgenommen wurden. Ihre Zahl ist unbekannt, nach Ansicht der Revolutionäre geht sie gegen 1000.
Dass diese Agitatoren vor Militärgerichte gelangen, von denen sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit, blitzschnell und fast automatisch als schuldig befunden werden, empfinden die Demonstranten als besonders empörend, weil die Politiker aus der Mubarak-Zeit, unter ihnen Mubarak und seine Familienmitglieder selbst, sowie Adly, der verhasste Innenminister des früheren Regimes, vor zivilen Gerichten stehen und dort alle Vorteile wahrnehmen können, die einem zivilen Angeklagten - besonders wenn er über Geld verfügt - zukommen: Advokaten zu seiner Verteidigung, Berücksichtigung schwacher Gesundheit sowie möglicherweise Freilassung unter Kaution.
Kommt die Demokratie?
Vorläufig bleibt den Ägyptern die Hoffnung auf lange Frist. Die Armeespitzen selbst haben ja zugesagt, sie wollten ein demokratisches Regime einrichten, und sie wirken auch in diesem Sinne, wenn es auch viel langsamer vorwärts geht als erhofft und erwartet. Doch neben die Zeitfrage tritt auch zunehmend jene nach der genauen Natur des verheissenen demokratischen Regimes. Wer wird in welchem Sinne regieren, wenn die Armeespitzen von der politischen Verantwortung zurücktreten - insofern und so weit sie zurücktreten werden?
Was die Armeeführung selbst anstrebt, ist ziemlich klar: Fortführung ihrer bisherigen Position und Privilegien im ägyptischen Staat. Diese Position mit ihren Privilegien existiert seit 1952, dem Jahr des Staatsstreiches (genannt "Revolution") Abdel Nassers. Sie wurde seither stets weiter ausgebaut und abgesichert. Ob eine künftige echte Demokratie mit diesen Zielvorstellungen der gegenwärtigen Machthaber wirklich vereinbar sein wird, ist ungewiss.
Scylla und Charybdis der Revolution
Je demokratischer der Staat würde, desto mehr sähe er sich gezwungen und veranlasst, dem Druck der ägyptischen Lohnempfänger und Arbeiter nachzugeben und auf ihre Prioritäten einzugehen. Diese sind kurz gesagt: Arbeit finden, essen, sich kleiden, wohnen, eine Familie aufziehen zu können. Die ägyptische Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur müsste soweit umgebaut und verbessert werden, dass sie dies leisten könnte.
Doch der Umbau des gesamten Wirtschaftssystems kann nicht so schnell von statten gehen wie der Aufbau der formellen Strukturen einer Demokratie. Ganz Ägypten, 70 Millionen Menschen, müsste viel produktiver werden und gleichzeitig wären tief eingefressene soziale Ungerechtigkeiten zu korrigieren.
Ein schwieriger Balanceakt steht bevor. Der Status quo muss so weit erhalten bleiben, dass ein gradueller Umbau der sozialen Strukturen des Landes beginnen und andauern kann. Um jedoch in der heutigen Lage der "Nachrevolution" diesen Status quo erhalten zu können, kommen die leitenden Mächte nicht darum herum, weiterhin einen - hoffentlich langsam abnehmenden Druck - auf die gewaltige Mehrheit der Unterprivilegierten auszuüben.
Druck als Vater der Tyrannei
Grosse Teile von ihnen erwarten dringlich sofortige Besserstellung. Ohne Druck würden sie endlos streiken und demonstrieren, um für ihre Ziele zu kämpfen. Sie liefen dadurch Gefahr, einen Zusammenbruch der ohnehin schwachen Wirtschaftsstrukturen Ägyptens herbeizuführen.
Doch der Druck hat immer auch seine eigene Dynamik. Wenn er nicht streng kontrolliert wird, wirkt er sich dahin aus, dass die Mächtigen, die ihn ausüben, wie schon unter Mubarak gehabt, ihre Positionen ausbauen, festigen und mit Gewalt absichern, indem sie alle Opposition niederschlagen und die "Ruhestörer" systematisch aller Aktionsmöglichkeiten berauben.