Dass Israels Premier Netanjahu entschlossen ist, alle internationalen Appelle in Richtung Deeskalation der Konflikte im Gaza-Streifen und in Libanon zu ignorieren, zeichnete sich seit langem ab: Da konnten die US-Amerikaner noch so inständig bitten, er möge sich auf einen Deal mit der Hamas einlassen, um die noch lebenden Geiseln frei zu bekommen und der palästinensischen Bevölkerung wenigstens eine Atempause zu ermöglichen – Netanjahu sagte nein.
Und wieder brüskierte er Joe Biden, Noch-Präsident, mit der klaren Weigerung, auf massive Angriffe in Libanon zu verzichten. Dass die internationale Gemeinschaft sich Sorgen wegen einer Eskalation macht, welche die ganze Region mit Krieg überziehen kann, kümmert ihn nicht. Er weiss es ja besser, wie er in seiner Rede vor der Uno am Freitag in New York klar gemacht hat. Er weiss, dass all das, was ihn von seinen Offensiven abbringen will, «Antisemitismus» ist …
Durch die gewaltige Bomben-Attacke auf einen Häuserkomplex in Beirut, in dem sich mehrere Hisbollah-Kommandanten und sehr wahrscheinlich auch Hassan Nasrallah befanden, hat der Konflikt eine neue Dimension erreicht. Die israelischen Streitkräfte machten damit klar: Sie glauben an die Möglichkeit, den Hisbollah total zu vernichten. Sie glaubten allerdings auch daran, sie könnten im Gaza-Streifen die Hamas mit einem kurzem Feldzug vernichten. Nun dauert der Krieg dort aber fast schon ein Jahr, und die Hamas existiert immer noch. Wird sich dieses Gewalt-Szenario in Libanon wiederholen?
Steht ein Nachfolger schon bereit?
Dafür spricht leider viel, auch wenn der Hisbollah derzeit fast ohne Führung ist. Die Erfahrung hat gezeigt, dass in para-staatlichen Organisationen immer, und das in kurzer Zeit, eine neue Kommandostruktur geschaffen wird, dass die Eliminierung der obersten Schicht nicht zur Vernichtung und schon gar nicht zur ideologischen Mässigung führt. Das beobachtete man bei der Hamas, das gilt wahrscheinlich auch für die Hisbollah. Als denkbaren Nachfolger für den getöteten Nasrallah sehen Insider schon Hashem Safieddine, den Chef des Exekutiv-Rats.
Nun hat der Hisbollah durch den Konflikt in den letzten Wochen zwar mehrere tausend Kämpfer verloren, verfügt aber total über mindestens 40’000 (Nasrallah sprach sogar von 100’000) militärisch ausgebildete Aktivisten. Und hat, das beobachtet man tagtäglich, trotz der massiven israelischen Luftschläge noch immer ein gewaltiges Raketen-Arsenal. Hinzu kommt die Geografie: Der Süden Libanons, besonders im Grenzgebiet zu Israel, ist vorwiegend hügelig, somit ideal für Verteidiger und höchst problematisch für Angreifer. Sollte Israel sich wirklich zu einer Boden-Offensive entschliessen, würde die Herausforderung gewaltig. Grösser auf jeden Fall als bei all den Boden-Offensiven, welche die israelische Armee in den letzten Monaten im Gaza-Streifen unternommen hat.
Schwacher Libanon
Ein eigenes Trauerspiel innerhalb der grossen libanesischen Tragödie spielen die Regierung und die Armee Libanons. Ministerpräsident Nadjib Mikati, auch er, wie später Netanjahu, einer der Redner in der Uno, fand in New York für den Konflikt nur die hilflosen Worte, da handle es sich um einen «schmutzigen Krieg», für den Israel die Verantwortung trage. Immer, wenn er, der Premier, oder einer seiner Minister sich an die Öffentlichkeit wendet, wirkt es so, als hätten sie nichts mit dem Konflikt zu tun.
Nun ja, die libanesische Armee belegt auf dem Index der Stärke von Armeen weltweit, gemäss dem Ranking von «Global Firepower» nur Platz 118 von insgesamt 145 untersuchten Streitkräften (Israel, nebenbei bemerkt nimmt Platz 17 ein). Das heisst: Sie ist so schwach, dass kein Gegner sie ernst nehmen muss. Und ähnlich schwach ist die Regierung –, weil sie auf einem künstlichen System beruht. Es soll die Interessen von Sunniten, Schiiten und maronitischen Christen gegeneinander austarieren, führt aber dazu, dass jede dieser Gruppierungen sich nur für sich selbst verantwortlich fühlt und dass die Sunniten und christlichen Maroniten eigentlich den Süden des Landes (sowie einen Teil der Bekaa-Ebene und die südlichen Vororte von Beirut) als fremdes Territorium betrachten, weil dort grossmehrheitlich Schiiten leben und die meisten Schiiten sich mit dem Hisbollah solidarisieren.
Keine Hoffnung auf Deeskalation
So konnte Hassan Nasrallah die Aktionen seiner Miliz immer ohne Rücksicht auf die Interessen der nicht-schiitischen Gemeinschaften Libanons anordnen, auch die Serien von Raketen-Angriffen auf Ortschaften im Norden Israels seit Oktober des letzten Jahrs – die etwa 70’000 Israeli dazu gezwungen haben, zu Binnenflüchtlingen im eigenen Land, in sichereren Regionen, zu werden. Umgekehrt mussten auch mindestens 70’000 Libanesinnen und Libanesen ihre Häuser und Dörfer im Süden des Landes wegen israelischer Luftangriffe verlassen.
Gibt es trotz allem noch eine Hoffnung auf Deeskalation? Es sieht nicht so aus – Nasrallah hat dem Hisbollah den verhängnisvollen Befehl hinterlassen, dass er die militärischen Aktionen gegen Israel erst beenden dürfe, wenn Israel im Gaza-Streifen die Angriffe gegen die Hamas respektive gegen die palästinensische Bevölkerung beende. Er hat damit sich, den Hisbollah und die ganze libanesische Gesellschaft in eine Sackgasse manövriert. Und Israel macht sich das zunutze, indem es immer weiter an der Eskalationsspirale dreht.