Unter den Toten befinden sich acht Muslime und 13 Kopten. Das Attentat ereignete sich am Ausgang der Kirche. Es war zweifellos gegen die Kopten gerichtet. Der Anschlag wäre noch sehr viel tödlicher verlaufen, wenn die Bombe Sekunden später explodiert wäre, weil die Kirche sich eben erst zu leeren begonnen hatte.
Der Konflikt zwischen Muslimen und Christen spielt sich auf drei Ebenen ab: Erstens: auf einer rein ägyptischen, zweitens: auf einer über Ägypten hinausreichenden „islamistischen“ und drittens: auf einer internationalen. Letztere kann mit den gegenwärtigen Kriegshandlungen und Bombenanschlägen im Irak, in Afghanistan und in Pakistan erklärt werden. Auch die Spannungen um Palästina spielen eine wesentliche Rolle. Betrachten wir die drei Ebenen einzeln.
Die erste Ebene: Staatliches Recht und islamisches Rechtsempfinden
In Ägypten dauert die Koexistenz zwischen Kopten und Muslimen seit 14 Jahrhunderten. Sie hat in dieser langen Zeit viele Krisen, aber auch viele Perioden friedlichen Zusammenlebens erlebt. Jetzt allerdings ist diese Koexistenz bedroht.
Der moderne Staat Ägypten wurde seit der napoleonischen Zeit allmählich aufgebaut. Die britischen Kolonialisten hatten diesen Aufbau einerseits gefördert, anderseits aber auch behindert. Dieser Staat verordnete eine klare Gesetzgebung, die das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften regelte.
Laut dieser Gesetzgebung werden die Kopten als voll gleichberechtigte Bürger anerkannt. Ihre religiösen Rechte werden geschützt und geregelt. Diese Gesetzgebung basiert in ihren Grundzügen auf dem Code Napoleon, also auf der europäischen Aufklärung. Gleichzeitig sind englische Rechtstraditionen in das „Anglo-Egyptian law“ eingeflossen. Rücksicht genommen wurde auch auf Vorstellungen des islamischen Rechts, besonders im Bereich des Familienrechts.
Doch im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte, seit dem Ende der Nasser-Zeit, hat das islamischen Recht, die Schari'a, an Gewicht gewonnen. Das nationale ägyptische Recht wurde mehr und mehr verdrängt. Islamistische Gruppen kämpfen dafür, dass die Schar'ia das einzige im Lande gültige Recht werde. Sie konnten sich nicht durchsetzen. Doch der Staat gab sich elastisch und räumte der Schari’a mehr Raum im öffentlichen Leben ein. Auf diese Art wurde versucht, die islamischen Kritiker zu besänftigen.
So wurde die Präambel der ägyptischen Verfassung neu formuliert. Dort heisst es jetzt, die Schari'a sei "die einzige Quelle" des ägyptischen Rechts. Dies ist jedoch eine rein formale Feststellung, denn das bestehende Staatsrecht wurde nicht aus den Angeln gehoben.
Besonders im Bereich des Familienrechtes nahm die Bedeutung der Schari'a zu. Geht es um persönliche oder familienrechtliche Fragen, so werden die Juristen des modernen Staates kaum noch konsultiert. Die grosse Mehrheit der Ägypter wendet sich in solchen Fällen lieber an den Mufti: den Schari’a-Gelehrten. Schon deshalb, weil eine Fatwa, das heisst ein Rechtsgutachten nach der Schar'ia, sehr viel schneller und billiger, nämlich gratis, zu erhalten ist als der Rechtsbescheid eines Advokaten.
In der Schari'a aber sind die Kopten und die Muslime nicht gleichgestellt. Grundsätzlich gilt, dass der Christ auch seine Rechte besitzt, jedoch dem Muslim unterstellt bleiben soll. Betroffen davon ist die Heirat. Laut der Schari’a kann ein Muslim eine Christin heiraten, weil die Frau dem Mann unterstellt sein soll.
Umgekehrt gilt das jedoch nicht. Ein Christ kann keine Muslimin heiraten, weil dann die Muslimin dem Christen untergeordnet wäre. Wenn ein Christ eine Muslimin heiraten will, muss er sich entweder zum Islam bekehren oder sie muss zum Christentum übertreten. Die Heirat kann auch im Ausland vollzogen werden. Sie wird dann in Ägypten stillschweigend anerkannt, könnte aber möglicherweise auf Grund einer Klage annulliert werden.
Die Ambiguitäten im Scheidungsfall
Der Übertritt zur andern Religion kann auch ein Scheidungsgrund sein. Christinnen, die zum Islam übergetreten sind und sich in der Ehe schlecht behandelt fühlen, können zum Christentum zurückkehren. So werden sie ihren Ehemann und dessen gesamte Familie los.
Doch wer Muslim oder Muslimin war und sich vom Islam abwendet, ist ein „Apostat“ oder eine „Apostatin“. Und diese verdienen laut der Schari’a eigentlich den Tod.
Das zivile staatliche Gesetz Ägyptens verbietet natürlich das Töten von Menschen aus Glaubensgründen. Doch der Einfluss der Schari'a ist so bedeutend, dass viele Behörden alles tun, um eine Situation, die es nach der Schar'ia nicht geben dürfte, "ungeschehen" zu machen.
So weigern sie sich zum Beispiel anzuerkennen, dass eine Christin, die Muslimin geworden ist, wieder Christin wird. "Es gibt nichts, was es nicht geben darf", ist ihr Motto. Umgekehrt liegt der Falle anders. Wenn eine Muslimin Christin geworden ist und wieder Muslimin werden will, ist das der Schari’a willkommen. Diese Frau hat ihre Apostasie bereut und wird wieder in den Schoss des Islams aufgenommen. Kehrt eine Christin, die zum Islam übergetreten war, wieder zum Christentum zurück, gehören die Kinder zum Islam, denn sie haben einen muslimischen Vater.
Jeder Ägypter braucht eine Identitätskarte. Ohne sie kann er zum Beispiel keine legale Arbeit finden. Ist der Vater Moslem, weigern sich die Behörden dem Kind eine Identitätskarte mit der Bezeichnung „Christ“ auszustellen – selbst dann, wenn das Kind dies will und zur koptischen Kirche gehört.
Solche Fälle werden von skrupellosen muslimischen Predigern immer wieder benutzt, um Unruhe zu stiften und Leidenschaften zu entfesseln. In ihren Predigten heisst es dann, die Christen würden „mit Gewalt in der koptischen Kirche zurückgehalten“. Von den über 80 Millionen Ägyptern sind zehn Prozent oder mehr Kopten.
Der Streit um Kirchenbau
Unterschiedliche Massstäbe werden auch beim Bau christlicher Kirchen angelegt. Das staatliche Recht sieht vor, dass christliche Kirchen gebaut werden dürfen. Vorausgesetzt, es besteht die Notwendigkeit dazu. Diese allerdings muss von christlicher Seite nachgewiesen werden.
Die Schari'a-Regelung ist komplex und – je nach Rechtsschule – unterschiedlich. Die strengste Ausrichtung sagt: "Keine neuen Kirchen, nur Reparaturen jener, die es schon gibt!" Doch gibt es auch Kreise, die auf das Bedürfnis der christlichen Gemeinden Rücksicht nehmen wollen. Kurz: Man kann darüber streiten, ob ein Kirchenbau „notwendig“ ist oder nicht. Bürokraten können den Bau neuer Kirche blockieren, und sie tun dies nicht selten. Auch hier können Scharfmacher die Bevölkerung aufhetzen und gewaltige kollektive Leidenschaften entfesseln.
Unterschiedliche Auslegungen gibt es überall. So verbietet die Schari’a Weintrinken sowie Tanz und Musik. Der Staat allerdings lässt das zu, vorausgesetzt, es wird nicht in der Nähe von Moscheen getanzt und Musik gespielt (und Moscheen gibt es viele). Solche Gegensätze werden von Predigern oft benutzt, um die Religionsgemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. "Soll etwas einem Muslim verboten sein (eben etwa Wein und Musik), was einem Christen erlaubt ist?“ kann ein Prediger fragen.
Die zweite Ebene: Das Ringen um den "muslimischen" Staat
Solche Interessenkonflikte wirken sich auch auf den „muslimischen“ oder den „nationalen“ Staat aus. Die Scharfmacher haben in den Jahren nach dem Zusammenbruch des nasseristischen Staates immer wieder versucht, den in ihren Augen religiös allzu indifferenten, "nationalen" Staat durch einen "islamischen" zu ersetzen. Manche Gruppen setzten dazu Gewalt und Terror ein. Der Staat hat zurückgeschlagen und diese Gruppen in Ägypten weitgehend eliminiert. Ayman Zawahiri agitiert jetzt von Schlupfwinkeln am Rande Afghanistans aus.
Da die Schari’a und der Staat das Recht unterschiedlich auslegen, besteht eine Rechtsunsicherheit. Diese bietet Aktivisten Gelegenheit, weiter für „die Schari’a“ zu kämpfen. Natürlich suchen sie sich die publikumswirksamsten neuralgischen Stellen aus. Dies sind jene, wo die Religionsgemeinschaften zusammenleben. Der Staat ist Garant dieses Zusammenlebens.
Nach dem Bombenanschlag in Alexandrien kam es zu Demonstrationen von Christen. Sie riefen "unser Blut für das Kreuz". Eine nahe gelegene Moschee, die auch von der Explosion beschädigt worden war, wurde gestürmt; Bücher wurden aus den Fenstern geworfen.
Die Polizei griff sofort gegen die Demonstranten ein. Wenn das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften auch nur teilweise zusammenbricht, wird der Staat in die Defensive gedrängt und in den Augen der Anhänger der Schari’a bloss gestellt. Die in den Untergrund gedrängten Scharfmacher hingegen können einen Erfolg für ihre Sache buchen. Laut ihrer Ansicht hat sich dann die Schari’a gegen den Staat durchgesetzt.
Die dritte Ebene: Antwort auf Fremdinvasionen
Drittens richtet sich die islamische Auflehnung nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern gegen „die Feinde des Islams“. Als solche werden – nicht ganz ohne Grund – vielfach die westlichen Mächte betrachtet. So die USA im Irak.
Die Bombenanschläge im Irak gegen die dortigen Christen haben einen Zusammenhang mit dem, was in Ägypten geschieht. Zur Aufwiegelung gegen die Christen wird immer mehr das Internet eingesetzt. So wurden über das Netz anti-muslimische Geschichten verbreitet. Behauptet wird auch, Christen würden mit Gewalt davon abgehalten, sich zum Islam zu bekehren. Solch tendenziöse Nachrichten dienten dazu, die Empörung gegen „die Christen“ zu schüren.
Die Christenverfolgungen im Irak dienen dem gleichen Zweck wie in Ägypten. Teile der irakischen Sunniten kämpfen mit allen Mitteln dafür, die vornehmlich aus Schiiten bestehende irakische Regierung zu Fall zu bringen. Die sunnitischen Regierungsgegner unter denen sich sowohl entmachtete Baathisten als auch islamische Radikale befinden, hoffen eines Tages wieder an die Macht zu gelangen. Ihr strategisches Ziel war es, einen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten auszulösen, was der Regierung das Regieren verunmöglichen würde.
Die Schiiten hielten sich anfänglich zurück, doch dann setzten sie sich zur Wehr. Der so ausgelöste Bürgerkrieg endete mit der Niederlage der sunnitischen Seite. Folge davon war die Vertreibung vieler Sunniten aus Bagdad. Zwar führen Sunniten noch immer Anschläge gegen Schiiten durch, doch die Attentate werden seltener und ihre Gefährlichkeit nimmt ab.
Viel ungefährlicher als die wehrbereiten Schiiten sind die Christen. Sie anzugreifen ist risikolos, denn sie verfügen über keine eigenen Milizen. Doch Anschläge gegen Christen diskreditieren die Regierung und lösen Unruhe aus. Die Attentate zeigen, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die christlichen irakischen Bürger zu schützen. Der gegen die Christen gerichtete Terror ist ein billiges Mittel der Sunniten, das zeigen soll, dass sie immer noch fähig sind zuzuschlagen. Sie machen deutlich, dass der Staat nicht in der Lage ist, dem Terror Herr zu werden.
Ähnliches geschieht in Pakistan. Dort gibt es kaum Christen, dort richten sich die Attentate gegen kleine Religionsgruppen innerhalb des Islams: so gegen die Sufi-Zentren oder gegen die Ahmedi. Die Sufi bilden innerhalb des Islams einen Gegenpol zum Islamismus. Die Ahmedi werden von der sunnitischen Mehrheit als nicht orthodox eingestuft. Immer geht es den Terroristen darum nachzuweisen, dass der "ungläubige", von den Ausländern eingerichtete Staat seine Bürger nicht zu schützen vermag, obwohl er verpflichtet wäre, seine Schutzfunktion wahrzunehmen.