Die zweiten Parlamentswahlen dieses Jahres in der Türkei sind auf den 1. November angesetzt. Die Wahlwiederholung wurde notwendig, weil es sich nach den ersten vom 7. Juni als unmöglich erwies, eine Koalition zu bilden. Die grösste Partei des Landes, die AK-Partei Präsident Erdogans, hatte zwar eine Mehrheit erlangt, jedoch keine absolute, und eine Koalition mit anderen Parteien kam nicht zustande. Die grösste Oppositionspartei, CHP (Republikanische Volkspartei), stellte Forderungen auf, welche die AK-Partei und insbesondere Erdogan selbst als unannehmbar ablehnten.
Präsident Erdogan macht kein Geheimnis daraus, dass er plant, die Verfassung der Türkei so abzuändern, dass er ein Präsident mit exekutiven Vollmachten werden kann. Doch dazu braucht er eine absolute Mehrheit im Parlament. Diese verfehlte seine Partei in den Wahlen vom Juni, aber er und seine Partei hoffen auf sie in den nun bevorstehen Wahlen vom 1. November. Soweit sind sich die Freunde und Bewunderer Erdogans und seine Kritiker einig.
Die Kurden entscheiden
Die Kritiker Erdogans fügen hinzu: Erdogan versucht nun, eine absolute Mehrheit für seine Partei zu erringen, indem er die Konfrontation des türkischen Staates und seiner Militärs mit der PKK anheizt. Ein Wiederaufreissen der alten Wunden des Kriegs zwischen Kurden und den türkischen Sicherheitskäften, so halten sie fest, könnte bewirken, dass die pro-kurdische Partei HDP des Politikers Demirtasch weniger Stimmen erlangte als in den vergangenen Wahlen, in denen sie beinahe 14 Prozent der Stimmen erhielt. Wahlverluste der HDP, besonders wenn sie dazu führen, dass die pro-kurdische Partei die Zehnprozenthürde, die für Einzug ins Parlament in der Türkei gilt, nicht überwinden kann, würden der AKP und Erdogan mit grosser Wahrscheinlichkeit erlauben, ihrerseits das absolute Mehr zu erringen. Die Kritiker Erdogans vermuten daher und sprechen ihren Verdacht offen aus, dass Erdogan den Kurdenkrieg schüre, um seine Wahlaussichten zu verbessern.
Die Parteigänger Erdogans streiten dies ab, und auch Erdogan selbst dementiert solche Anschuldigungen energisch. Er und seine Anhänger verweisen auf die Untaten der PKK, die in der Tat die gegenwärtige Gewaltspirale in Gang gesetzt hatte, indem sie unmittelbar nach dem Massaker von Suruç vom 20. Juli dieses Jahres (das IS zugeschrieben wurde) zwei türkische Polizisten «hinrichtete». Die Begründung der PKK für diese erste Untat war, dass die türkische Regierung und ihre Geheimdienstleute das Massaker von Suruç, dem deissig kurdische und kurdenfreundliche junge Leute zum Opfer fielen, toleriert oder sogar heimlich gefördert hätten. Ob dies zutrifft oder nicht, sicher ist, dass seither eine Eskalation stattfindet, deren Spirale sich dreht.
Kriegszustand an der irakischen Grenze
Die PKK hat den Waffenstillstand beendet und ist zu einem Kriegszustand zurückgekehrt. Er manifestiert sich darin, dass Kleinanschläge auf die türkische Armee und Polizei in den östlichen Teilen der Türkei, oft nah an der irakischen Grenze, verübt werden. Die türkische Regierung bombardiert ihrerseits die Schlupfwinkel der PKK-Kämpfer in den Bergen an der irakischen Grenze und auch darüber hinaus im Irak.
Am vergangenen Dienstag hat eine Sondereinheit der türkischen Armee die irakische Grenze überschritten, um kurdische PKK-Kämpfer in ihren Zufluchtsorten jenseits der türkischen Grenze zu verfolgen. Die türkische Luftwaffe gab ihr Deckung. Sie setzte am Dienstag 50 Kampfflugzeuge ein. Es ist ein Ringen zwischen Ungleichen. Die PKK gebraucht Minen, die sie unter den Fahrzeugen der türkischen Sicherheitskräfte hochgehen lässt, die türkische Regierung antwortet mit Luftschlägen der modernen Kampfflugzeuge, über die sie verfügt.
Den Opferzahlen, die von beiden Seiten angeben werden, ist nicht unbedingt zu trauen. Doch besteht wenig Zweifel, dass die türkischen Kriegsflugzeuge die PKK mehr Leben kosten als die Überfälle der Kurden den türkischen Soldaten und Gendarmen. Solche Ungleichheiten verhinderten jedoch bisher nicht, dass beide Seiten alles tun, was sie vermögen, um ihre Feinde zu treffen.
Erhitzte Stimmung
Der Tod von Soldaten ruft in der Türkei – jedenfalls unter den türkischen Bevölkerungsteilen – starke Emotionen hervor. Die Begräbniszeremonien werden von den Fernsehstationen landesweit ausgestrahlt. Auf der kurdischen Seite herrscht ebenfalls Kampfstimmung. Es gibt Quartiere in den kurdischen Städten und Ortschaften, in denen die kurdische Jugend versucht, durch Strassensperren die türkische Polizei fernzuhalten und selbst als «Ordnungshüter» ihrer Wohnviertel aufzutreten. Was unvermeidlich zu Strassenschlachten führt.
Nachdem 14 Polizisten und kurz darauf 16 Soldaten im Osten der Türkei Explosionen zum Opfer gefallen sind, die der PKK zugeschrieben wurden, kam es in Ankara, Istanbul und mindestens fünf weiteren Provinzhauptstädten zu Übergriffen nationalistischer Gruppen, die meist der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalen Bewegung) nahe stehen, auf die Parteisitze der legalen kurdenfreundlichen Linkspartei Selahettin Demirtaschs, DHP (Demokratische Volkspartei). In manchen wurde Feuer gelegt, in anderen die Möbel und Scheiben zerschlagen.
Die Ko-Präsidentin der DHP sprach von 200 Parteisitzen im ganzen Land, die angegriffen worden seien, DHP-Präsident Demirtasch einen Tag später von 400. Auch von Kurden geführte Geschäfte wurden Ziele der Angriffe durch nationalistische Plünderer. Kurden leben neuerdings nicht nur in den kurdischen Ostgebieten sondern auch in den türkischen Städten, vor allem in den grössten von ihnen, Ankara, Istanbul und Izmir. Dies ist eine Folge früherer Kurdenkriege zwischen 1984 und 2013, in denen kurdische Dörfer im grossen Stil von der Armee zerstört wurden. Die Bewohner waren gezwungen, in die Städte auszuwandern.
Sichtlich beunruhigt, erklärte Demirtasch am Mittwoch, es drohe ein Bürgerkrieg. Er räumte ein, dass die Rechtsdemonstranten bisher noch keine Todesopfer verschuldet hätten. Doch er sagte: «Wir werden gelyncht.» Garo Paylan, einer der Abgeordneten seiner Partei, fand die Formel: «Was hier zerbrochen wird, ist das Zusammenleben innerhalb der Türkei». Demirtasch stellte in Frage, ob Wahlen in einem derartigen Klima noch durchführbar seien und wies darauf hin, dass die Regierung in hundert Distrikten der Osttürkei den provisorischen Notstand ausgerufen habe. Er beschuldigte Präsident Erdogan, er habe «den Entscheid getroffen, den Krieg auszulösen und er heize ihn weiter an».
Riskante Strategie Erdogans
Politiker der Regierungspartei weisen solche Anschuldigungen zurück. Zwei Zeitungen «Hürriet» und «Sabah», die für die Opposition sprechen und ebenfalls dem Staatschef vorwerfen, er sei für die Unruhen verantwortlich und habe sie ausgelöst, um daraus Wahlvorteile zu ziehen, wurden von Rechtsdemonstranten angegriffen. «Hürriet» bereits zum zweiten Male. Scheiben wurden eingeschlagen. Der Ministerpräsident, Davutoglu, ein Mann Erdogans, erklärte auf Twitter solche Übergriffe seien nicht tolerierbar. Doch die kurdischen Abgeordneten sagen, die Polizei habe untätig zugesehen, als sie geschahen.
Die Feinde und Gegner Demirtaschs werfen seiner Partei vor, sie arbeite heimlich mit der PKK zusammen und sei überhaupt nur eine Fassade der kurdischen «Terroristen». Doch Demirtasch weist darauf hin, dass er und seine Partei stets bemüht waren, den Frieden aufrecht zu erhalten und zu festigen. Dies trifft ohne Zweifel zu. Der Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat droht die zwischen den beiden stehende DHP aufzureiben.
Ist dies die Strategie Erdogans? Trotz allen Dementis spricht viel dafür, dass er und seine Partei tatsächlich die Spannungen angeheizt hatten mit dem Ziel, eine Wiederholung des Wahlerfolgs der Partei Demirtaschs vom vergangenen Juni im kommenden Wahlgang zu vereiteln. Jedoch nun entsteht die Gefahr, dass die Konfrontation zwischen den beiden Völkern der Türkei so weit gehen könnte, dass der Frieden im Lande gefährdet würde. Die Autobusse privater Gesellschaften, die Istanbul und Ankara mit dem türkischen Osten verbinden, haben zur Zeit ihren Verkehr in die kurdischen Landesteile wegen der Unruhen eingestellt.