Die Vorwürfe wiegen schwer: Die Staatsanwaltschaft beschuldigt die 38 Angeklagten – ehemalige Minister, Abgeordnete, Senatoren, Unternehmer und Banker – „das dreisteste und skandalöseste System von Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder, das je in Brasilien entdeckt wurde, aufgebaut zu haben“. Die regierende Arbeiterpartei soll illegal Millionen angehäuft und sich zwischen 2003 und 2005 regelmässig mit Schmiergeldzahlungen an Parlamentarier aus verbündeten Parteien die Zustimmung zu Regierungsprojekten gesichert haben. Mancher Politiker konnte dank diesem so genannten „mensalão“ (grosse monatliche Zuwendung) angeblich sein Gehalt um bis zu 10 000 Franken aufbessern.
Vom Kabinettschef zum Angeklagten
Einer der Hauptakteure in der Korruptionsaffäre, mit der sich jetzt Brasiliens Oberstes Bundesgericht beschäftigt, soll José Dirceu gewesen sein. Der frühere Kabinettschef in der ersten Regierung unter Luíz Inácio Lula da Silva gehört zu den schillerndsten Persönlichkeiten im Partido dos Trabalhadores (PT). Er kämpfte wie die amtierende Staatschefin Dilma Rousseff gegen die Militärdiktatur (1964 – 1985) und war 1989 Mitgründer des PT. Er hatte auch wesentlichen Anteil daran, dass Lula im Oktober 2002 im vierten Anlauf die Präsidentschaftswahl gewann. Dirceu hatte auch die extremeren Gruppierungen in den eigenen Reihen von der Notwendigkeit einer Öffnung überzeugen können und damit seine Partei für weite Bevölkerungskreise wählbar gemacht.
Lulas Tefloneffekt
Lula machte ihn zu seiner rechten Hand, liess ihn dann aber unter dem Druck der Korruptionsvorwürfe fallen, obschon Dirceu stets seine Unschuld beteuerte. Die Regierung stürzte in eine tiefe Krise. Lula selbst ging jedoch unbeschadet aus ihr hervor und wurde 2006 für eine weitere Amtsperiode gewählt. Offenbar nahm ihm die Mehrheit seiner Landsleute ab, dass er nicht die geringste Ahnung von korrupten Machenschaften in seiner Partei gehabt habe.
Will man den Verteidigern der 38 Angeklagten glauben, dann gibt es auch keine Beweise für die von der Staatsanwaltschaft behaupteten Stimmenkäufe. Sie bestreiten vehement, dass Schmiergelder bezahlt wurden, und geben lediglich zu, dass im PT Buchungsfehler passiert und so bei der Präsidentschaftswahl 2002 unkontrolliert Gelder in Wahlkampagnen verbündeter Parteien geflossen seien.
50 000 Seiten Anklage
Der Generalstaatsanwalt sprach hingegen in seiner fünfstündigen Eröffnungsanklage von einer erdrückenden Beweislast. Er und seine Mitarbeiter haben die Vorwürfe gegen die 38 Angeklagten auf 50 000 Seiten aufgelistet; sie reichen von Bestechung über Geldwäsche und betrügerisches Verhalten bis hin zur Bildung einer kriminellen Vereinigung. Der Mammutprozess, der im Fernsehen live übertragen wird, dürfte etwa zwei Monate dauern. Den Angeklagten drohen Haftstrafen von bis zu zwölf Jahren.
Sollte es tatsächlich zu Verurteilungen kommen, wäre dies ein eindeutiges Signal, dass Brasilien endlich ernst macht im Kampf gegen die Korruption. Ein Zeichen, dass die politische Elite nicht mehr schalten und walten kann, wie sie will; der Anfang vom Ende der immer noch vorherrschenden Straflosigkeit.
Das Schachern um Macht und Pfründen
Korruption und Klientelwesen sind Brasilien wie anderswo in Lateinamerika fester Bestandteil des politischen Systems. Das Staatsoberhaupt steht in der Regel einer Minderheitenexekutive vor und kommt deshalb nicht darum herum, Verbündete ausserhalb der eigenen Partei zu suchen, um regieren zu können. Das Werben um mögliche Koalitionspartner beginnt jeweils bereits im Wahlkampf. Die politischen Verhandlungen sind ein hemmungsloses Schachern um Macht und Pfründen, meist begleitet von korrupten Machenschaften begleitet.
Der ehemalige Gewerkschaftsführer Lula war mit dem Anspruch angetreten, mit der populistischen und lobbyistischen Tradition zu brechen und eine durch und durch saubere Politik zu betreiben. Doch auch während seiner Amtszeit gediehen Korruption und Vetternwirtschaft. Die Arbeiterpartei, stellte der brasilianische Sozialwissenschaftler Inácio Andrioli in einer Analyse fest, habe sich unter der Regierung Lula grundsätzlich verändert. „Sie ist nicht bereit, auf die partizipative Demokratie zu setzen, sondern versucht, sich der Logik der korrupten parlamentarischen Demokratie Brasiliens anzupassen… Für Brasilien bedeutet dies einen grossen Rückschlag in der Demokratisierung des Landes, denn der PT verkörperte als einzige grosse Programmpartei die Hoffnung auf Veränderungen, die demokratisch von unten durch wachsende Sozialmobilisierung gestaltet werden könnten.“
Rousseff zeigt mehr Mut
Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff zeigt sich wesentlich entschlossener als ihr politischer Ziehvater, den Korruptionssumpf trockenzulegen. Sie verschonte dabei auch die eigene Regierung nicht. Ein halbes Dutzend Minister aus ihrem Kabinett musste bereits unter Korruptionsverdacht über die Klinge springen. Rousseff sorgte auch dafür, dass der Präsident des brasilianischen Fussballverbandes, Ricardo Teixeira, entmachtet wurde und somit bei der Vorbereitung der Fussball-WM 2014 seine Finger nicht mehr im Spiel hat.
Ihre Zielstrebigkeit im Kampf gegen die Korruption trug der Präsidentin, die mehr und mehr aus dem Schatten ihres Vorgängers tritt, in der Bevölkerung viel Sympathie ein. Rousseffs Popularität ist der grösste Trumpf ihrer Arbeiterpartei bei den im Oktober stattfindenden Gemeindewahlen. Viele Brasilianer fühlen sich allerdings durch die Gerichtsverfahren gegen führende PT-Vertreter in ihrer Ansicht bestätigt, dass der Partido dos Trabalhadores mittlerweile auch nicht mehr besser ist als die anderen politischen Gruppierungen. Sie werden es sich deshalb zweimal überlegen, ob sie ihm die Stimme geben sollen.
Das Ende der Straflosigkeit?
Das Ergebnis der Kommunalwahlen ist daher mit grosser Ungewissheit behaftet. Genauso wie der Ausgang des Prozesses um den Mensalão-Skandal. Eine Wende hat er aber auf jeden Fall eingeleitet: Politiker, die der Korruption beschuldigt wurden, stehen tatsächlich vor Gericht – und werden vielleicht auch verurteilt. Damit ist noch längst nicht das Ende aller Korruption eingeläutet. Aber ein klares Signal gesetzt. Wer ein Verbrechen begeht, muss damit rechnen, dass er zur Rechenschaft gezogen wird – selbst wenn er Kabinettschef oder Präsident einer Regierungspartei ist.