Ihre demokratische Legitimation ist unbestritten. 54 Prozent der Wähler haben Cristina Kirchner vor einem Jahr das Vertrauen ausgesprochen und ihr so zu einer triumphalen Wiederwahl verholfen. Heute stehen jedoch Meinungsumfragen zufolge nur noch 30 Prozent der Argentinier und Argentinierinnen hinter der Präsidentin. In den unteren sozialen Schichten kann sie nach wie vor auf einen starken Rückhalt zählen, die Mittelklasse hingegen ist je länger, je weniger einverstanden mit ihr – und zeigt dies auch immer deutlicher.
Gegen die Wieder-Wiederwahl
Dieser Tage gingen im ganzen Land Hunderttausende auf die Strasse, um ihrer Unzufriedenheit mit Cristina Kirchner lautstark, aber friedlich Luft zu machen, unter ihnen auch etliche, die ihr im vergangenen Jahr die Stimme gegeben hatten. Sie schlugen mit Kochlöffeln auf Pfannen oder lärmten auf andere Weise und protestierten auf Plakaten und Transparenten gegen die steigende Kriminalität, die hohe Inflation, die weit verbreitete Korruption, gegen Druckversuche der Regierung auf die Justiz und gegen Pläne, der Staatschefin mit einer Verfassungsänderung den Weg zu einer abermaligen Wiederwahl zu ebnen.
Sie selbst hat bisher nicht verraten, ob sie über das Jahr 2015 hinaus die Geschicke des Landes lenken möchte. In ihrem engeren Umfeld wird jedoch beharrlich auf dieses Ziel hingearbeitet. Nicht zuletzt deshalb, weil sich kein Alternativkandidat aufdrängt.
Cristina Kirchner und ihre Gefolgsleute täten dennoch gut daran, gelegentlich ernsthaft über die Nachfolgeregelung nachzudenken. Es ist nämlich nicht erst an den Massenkundgebungen klar geworden, dass eine Wieder-Wiederwahl in der Bevölkerung auf massiven Widerstand stösst. In Umfragen hat sich eine deutliche Mehrheit dagegen ausgesprochen. Die entsprechende Verfassungsänderung müsste zudem im Parlament von zwei Dritteln der Abgeordneten gutgeheissen werden. Dass eine solche Mehrheit tatsächlich zustande kommt, ist eher unwahrscheinlich.
Uneinsichtige Präsidentin
Cristina Kirchner reagierte auf die landesweiten Proteste wie immer, wenn sie kritisiert wird. Sie gab sich unbeeindruckt, verkündete Durchhalteparolen und warf ihren Kritikern vor, ein verzerrtes Bild von Argentinien zu zeichnen. Die Präsidentin bestärkte damit den Eindruck eines grossen Teils ihrer Landsleute, dass sie viele Probleme, die ihnen zu schaffen machen, nicht sehe oder nicht sehen wolle.
Immer mehr Argentinier aus allen Gesellschaftsschichten fühlen sich durch die zunehmende Kriminalität bedroht und verlangen zu Recht, dass die Regierung Verbrechen entschlossener bekämpft. Sorgen bereitet ihnen auch die Teuerung, die im laufenden Jahr auf über 20 Prozent klettern dürfte. Die offiziellen Inflationszahlen sind wesentlich tiefer, weil das Statistische Amt sie notorisch beschönigt. Cristina Kirchner und ihre Entourage stützen sich auf diese falschen Daten und werden deswegen nicht bloss von Wirtschaftsfachleuten mangelnder Seriosität beschuldigt.
Ein leidiges Thema ist auch die Korruption, in die nicht selten hohe Regierungsstellen verwickelt sind. Warum nimmt sich die argentinische Präsidentin nicht ein Beispiel an ihrer brasilianischen Kollegin Dilma Rousseff? In Südamerikas grösstem Land mussten in den vergangenen Monaten mehrere Minister zurücktreten. Die Staatschefin hielt sie für nicht mehr tragbar, nachdem gegen sie Korruptionsvorwürfe erhoben worden waren. In Argentinien hingegen sind auch unter Cristina Kirchner Bestechung und Klientelwesen ein fester Bestandteil des politischen Systems.
Kopflose Opposition
Die Initiative zu den Grossdemos gegen die linksperonistische Staatschefin ging nicht von Oppositionsparteien, Gewerkschaften oder anderen etablierten Organisationen aus, sondern von Gruppen und Einzelpersonen, die über die sozialen Netzwerke im Internet die Massen mobilisierten. Die Oppositionsparteien drängten sich mit gutem Grund nicht vor, belegen Meinungsumfragen doch, dass sie in der Bevölkerung noch weniger populär sind als die Präsidentin.
Kirchners politische Gegner sind nach wie vor zu ideenlos und zu stark zersplittert, um sich den Unzufriedenen als glaubwürdige Alternative präsentieren zu können. Die Demonstrationen hatten auch nicht das Ziel, eine neue politische Landschaft zu schaffen. Die Menschen gingen auf die Strasse, weil sie mit ihren Sorgen ernst genommen werden wollen. Wenn die Regierung dazu nicht bereit ist und weiterhin auf Konfrontation statt auf Dialog setzt, dann wird sich die Unzufriedenheit früher oder später in politisches Kapital ummünzen.