„Die Digitalisierung gefährdet unsere Demokratie.“ Zu den Feinden der offenen Gesellschaft „zählen explizit Populisten und Propagandisten“. Sie würden die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke nutzen, „um im öffentlichen Raum mit Fake News, mit Konspirationstheorien, mit Halb- und Viertelwahrheiten zu ‚punkten’ oder Verwirrung zu stiften“.
Stephan Russ-Mohl, Medienprofessor an der Universität Lugano, zeichnet ein düsteres Bild von der heutigen Medienlandschaft. „Es ist nicht mehr fünf vor zwölf, es ist fünf nach zwölf“, schreibt er in seinem Buch „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“. *)
Die Wahrheit interessiert nicht mehr
„Fake News haben Karriere gemacht, sie sind zum Medienhype geworden.“ Die Desinformation „breitet sich nicht nur epidemisch aus, sie verändert auch unsere Wahrnehmung dessen, was wir für wahr halten“. Skrupellos würden Falschmeldungen in die Welt gesetzt, frei erfundene Zitate. Je abstruser die Lügen, desto mehr würden sie Anklang finden. Da gebe es gefälschte Statistiken, falsche Quellenangaben; da werde beliebig mit Zahlen herumgeschleudert.
Die Wahrheit interessiere nicht mehr. Unfug, frei Erfundenes und alternative News verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. „Was unzählige Male wiederholt wird, auch wenn es Unsinn ist, wird zur Wahrheit“, sagte Markus Spillmann, der frühere Chefredaktor der NZZ.
Russ-Mohl zitiert Nobelpreisträger Paul Krugman: Die neuen Rechten und auch die neuen Machthaber in der amerikanischen Regierung würden „als Serientäter wie gedruckt lügen“. Wenn es ums routinierte Lügen geht, schreibt Russ-Mohl, „verdient Trump fraglos die Pinocchio-Nase“.
Den Rattenfängern auf den Leim gehen
Nur durch die sozialen Netzwerke konnten „Krawalljournalismus“-Seiten wie Stephen Bannons „Breitbart“ eine grössere Leserschaft erreichen. Es sei ein richtiger Markt mit Fake News entstanden, sagt Russ-Mohl. Manche kopieren sogar Namen und das Design traditioneller Anbieter. So wurde aus „ABC News“, dem traditionellen Fernsehsender und Nachrichtenportal, „abcnews.com.co“ über das jetzt Fake News verbreitet werden.
„Je weniger Medienkompetenz und Bildung die Menschen haben, desto wahrscheinlicher ist es wohl auch weiterhin, dass sie Rattenfängern auf den Leim gehen“, schreibt Russ-Mohl.
Das Risiko, als Erfinder von Fake News zur Rechenschaft gezogen zu werden, sei gering. „Die Kosten-Nutzen-Analyse für die Erstellung von Fake News geht für viele Akteure auf.“
Inhalte geringer Qualität
Doch nicht nur Fake News allein bedrohen den Journalismus. Algorithmen der weltumspannenden IT-Konzerne wie Google und Facebook diktieren, was das Publikum zu sehen und zu lesen bekommt. Die Plattformbetreiber Facebook und Twitter behandelten „Content“ gleich, egal ob die Aussagen stimmen oder nicht. Hauptsache, sie erzielen Clicks und werden zu Trägern von Werbebotschaften. Woher die Nachrichten kommen, lasse sich oft nicht überprüfen. „Die Struktur und die ökonomische Funktionsweise der Plattformen begünstigen die Verbreitung von Inhalten geringer Qualität.“ Hochwertiger Journalismus würde in diesem System diskriminiert, sagen die amerikanischen Forscher Emily Bell und Taylor Owen.
„Die offensichtliche Schwachstelle der Algorithmen besteht darin, dass sie bislang nicht zwischen Fake News und Tatsachen zu unterscheiden vermögen“, schreibt Russ-Mohl. Ariel Hasell von der University of California in Santa Barbara wird so zitiert: „Je parteilicher und je wütender jemand ist, desto wahrscheinlicher wird es, dass er oder sie politische Nachrichten online teilt.“ Sam Lessin, der bei Facebook gearbeitet hat, sagt: „Man muss radikal sein, um Marktanteile zu gewinnen. Mit moderaten Tönen ist kein Blumentopf zu gewinnen.“
Putins Trolle
Vergiftet werde die Situation auch durch die Social Bots – also Roboter, die in den Sozialen Netzwerken Stimmung machen und Likes und Shares setzen. Sie variieren Kommentare tausendfach und überfluten die Netzwerke.
Bekannt sind auch die Troll-Fabriken Putins in St. Petersburg. Wie weit Bots und Trolle Wahlen und Abstimmungen beeinflussen, sei umstritten. Die Gefahr bestehe, dass viele Menschen plötzlich beginnen, diesen Social Bots zu glauben, vor allem, weil sie massenweise über uns hereinbrechen. „Das Gesindel frisst alles“, sei das Motto des russischen Medienpopulismus. „Trolls und Social Bots haben mit ihren Hassbotschaften, Attacken und Übergriffen das Internet dramatisch verändert – und zwar zunächst aus ihrer Anonymität heraus“, heisst es in dem Buch von Russ-Mohl.
Auch autokratische Regierungen benutzten immer mehr die digitalen Medien zu ihren Zwecken. Vor allem in Phasen wirtschaftlicher Schwäche brauchen sie Feindbilder. Sie nutzen die von ihnen kontrollierten Medien zu Verschwörungstheorien. Autokraten und Despoten würden ungehemmt Fake News so lange wiederholen lassen, bis sie in den Geschichtsbüchern Eingang finden.
Wir werden übers Ohr gehauen und merken es nicht
Doch nicht nur die Populisten und Fake News bedrohen die Medien. Es findet eine Machtverschiebung vom Journalismus Richtung Public Relation statt. Immer mehr werde der Journalismus durch PR subventioniert und gefährde dadurch seine Glaubwürdigkeit. Ein Grossteil des Stoffs der Gratiszeitungen bestehe aus verkappter PR und Schleichwerbung. Die Grenzen zwischen PR und Journalismus würden immer mehr verschwimmen. Wir würden übers Ohr gehauen und merken es nicht.
Die Werbung wandert immer mehr ins Internet ab. Google, Facebook und andere erzielen die Werbeerlöse. Zwar hatten auch die Zeitungen auf Online-Werbeerlöse gehofft. Doch das grosse Geschäft machen Google und Co.
Billige Fake News, teure Recherchen
Zudem wollen immer weniger Leute für Informationen etwas zahlen. Die Zahlungsbereitschaft vieler sei gleich null. Wer von Kindheit an mit Gratisinformation im Internet aufgewachsen ist, könne „sich kaum mehr vorstellen, für Journalismus zu bezahlen“. Es sei die „Erbsünde“ der Branche gewesen, alles gratis ins Netz gestellt zu haben, zitiert Russ-Mohl den amerikanischen Analysten Allen D. Mutter.
Weil das Geld immer knapper wird, würden Redaktionen ausgedünnt. Die Journalisten hätten keine Gatekeeper-Funktion, keine Schleusenwärter-Funktion mehr. Die PR nutze diese geöffneten Schleusen und platziere ihre Botschaften. Weil immer mehr Ressourcen fehlten, hätten die Journalisten immer weniger Mittel und Zeit zu Recherchen und würden „in die Abhängigkeit der Gratis-Zulieferungen der PR-Branche“ geraten. „Die erfahrenen Lotsen, denen wir zumindest halbwegs vertrauen konnten, gehen scharenweise mit Vorruhestandverträgen von Bord.“ Journalisten, die kein gesichertes Einkommen haben, „sind leichter korrumpierbar, vor allem dann, wenn für sie kaum Gefahr besteht, dass rechtliche oder ethische Verstösse entdeckt und geahndet werden“. Zudem sei die Erstellung von Fake News deutlich billiger als mühsames Recherchieren und die Suche nach echten Fakten.
Overnewsed but underinformed
Weil den Redaktionen das Geld fehle, überlasse man einen Teil des Feldes den „Citizen journalists“, den „Bürgerjournalisten“, den Bloggern, „die oftmals schlicht Selbstdarsteller sind“. Auch darunter leide die journalistische Qualität. Stephan Russ-Mohl fragt jeweils seine Studenten, ob sie zum „Citizen Zahnarzt“ oder zu einem „Bürger-Gynäkologen“ gehen möchten.
Verschlimmert werde die Lage noch, weil ein Überangebot an Nachrichten besteht. Damit würden die Nachrichten an Wert verlieren. Zudem „verlieren wir leicht den Überblick“. Wir würden mit Nachrichten überfüttert und seien dennoch unterinformiert (overnewsed but underinformed). Da wir mit Info-Müll überflutet würden, sinke die Aufmerksamkeitsspanne. „Je kürzer diese Spanne ist, desto weniger Kontext-Wissen wird in dieser hyperkomplexen Welt aufgenommen“, schreibt der Autor. Damit steige die Anfälligkeit, Fake News zu glauben.
Aus diesen und andern Gründen „droht der Journalismus, wie wir ihn seit Jahrzehnten kennen, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden“.
Schleichende Korruption, mafiöse Strukturen
Auf der Verliererseite der Entwicklung sei das demokratische Gemeinwesen. „Ohne kritische Kontrollinstanzen in den Medien breiten sich mit grosser Wahrscheinlichkeit schleichend Korruption und mafiöse Strukturen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und auch im Kulturleben und im Sport aus.“
Wir seien dabei, „die Glaubwürdigkeit unserer Medien und damit die Essenz unserer Demokratie zu verspielen“. Die Mainstream-Medien sind unter Druck geraten und einem „schleichenden Verfall des Vertrauens in die Medien“ ausgesetzt. Russ-Mohl zitiert eine Umfrage des deutschen Instituts „infratest dimap“ aus dem Jahr 2015. Danach haben 60 Prozent der Befragten „wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien“.
Doch wie stark ist dieser Vertrauensverlust wirklich? Russ-Mohl liefert auch andere Befunde. Laut einer Mainzer Forschungsgruppe um Niklaus Jackob ist das Vertrauen in öffentlich-rechtliche Sender und die klassischen Tageszeitungen noch immer „recht stabil“; zum Teil sei sogar eine „Zunahme des Vertrauens zu erkennen“. Ein „dramatischer, die Bevölkerung insgesamt ergreifender Vertrauensschwund“ sei nicht zu erkennen.
Vorurteile, Verschwörungstheorien
Dennoch: Laut der Mainzer Studie wirft jeder vierte Deutsche den Medien vor, ein „Sprachrohr der Mächtigen“ zu sein und „den Menschen vorzuschreiben, was diese zu denken hätten“. Fast jeder Fünfte sagt, die Bevölkerung werde von den Medien „systematisch belogen“.
Der Lügenpresse-Aufschrei von Pegida und AfD hinterlässt offensichtlich Spuren. Es kursierten „Vorurteile und Verschwörungstheorien über die Medien, die oft unreflektiert übernommen und weitergetragen werden“.
„Letztlich ist es schlicht unglaublich, was für hanebüchenen Unfug viele Leute für wahr halten“, schreibt Russ-Mohl. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung seien anfällig für Verschwörungstheorien. Sie glauben, dass 9/11 von den USA inszeniert worden sei. Sie sind auch überzeugt, Lady Di sei auf Bestellung des britischen Geheimdienstes ums Leben gekommen.
Sich nicht treiben lassen
Das laute Lügenpresse-Geschrei vermittle ein verzerrtes Bild. Etwa zehn Prozent der (deutschen) Bevölkerung stünde den Medien misstrauisch gegenüber, wird Gerhard Vowe von der Universität Düsseldorf zitiert. Dazu komme ein harter Kern von etwa zwei Prozent. „Es ist dieser harte Kern der Misstrauischen, der öffentliches Aufsehen erregt und insbesondere im Journalismus für Unruhe sorgt“, wird Vowe zitiert. Man müsse die zehn Prozent und den harten Kern ernst nehmen, aber man solle sich von ihnen „auch nicht treiben lassen“. Zudem sei es letztlich gut, dass ein grosser Teil der deutschen Bevölkerung gegenüber den Medien skeptisch sei: „Niemand kann letztlich wollen, dass die Bürger den Journalisten vorbehaltlos trauen und folgen.“
Doch nicht nur die notorischen Medienhasser greifen die Medien an. „Wer auch immer an der Macht ist, benutzt die Medien als Prügelknabe“, zitiert Russ-Mohl den italienischen Journalisten und Schriftsteller Beppe Severgnini, der es wissen muss. Und die Populisten seien die ersten, die das Feindbild Medien pflegten und hätschelten. „Zu den Charakteristika der Populisten gehört“, so Russ-Mohl, „dass sie sich gerne und oft als Opfer der herrschenden Verhältnisse und auch der herrschenden Medien inszenieren.“
Was tun?
Die Desinformation sei „die Pest der digitalisierten Gesellschaft“, steht am Anfang des Buches. Es bestehe „dringender Handlungsbedarf“. Doch wie bekämpft man diese Pest?
Russ-Mohl verlangt ein Bündnis von Journalismus und Wissenschaft. Die Kommunikationswissenschaft sollte weniger schüchtern auftreten. Ausgerechnet dieses Fach sei unkommunikativ. Fett ab kriegen auch die Journalistenausbildung einerseits und Medienforschung andererseits. „Viele Journalistenschulen ... schotten sich gegenüber Wissenschaft und vor allem gegenüber der Medienforschung ab. Und umgekehrt tummeln sich an Hochschulen und Universitäten weiterhin zahllose Journalistik-Dozenten, die ernsthaft meinen, einen Beitrag zu einer qualitätsvollen Journalistenausbildung leisten zu können, obschon sie noch nie einen Zweispalter für ein aktuelles Nachrichtenmedium geschrieben haben.“
Fake News entlarven
Im Weiteren kann der Autor zur Pestbekämpfung halt nur mit klassischen Rezepten aufwarten. Das liegt in der Natur der Sache.
Ein wichtiger Schritt sei, die Fake News immer wieder öffentlich zu entlarven. Zudem könnten schwarze Listen erstellt werden, die jene Websites auflisten, die Fake News verbreiten. Auch Kooperation zwischen Medien würde sich anbieten. Königsdisziplin seien ehrgeizige Investigativ-Projekte wie die Recherchen zu den Panama-Papers. Das „Corrections management“ sollte verbessert werden. Die Journalisten müssten sich zudem vermehrt mit Algorithmen und Big Data auseinandersetzen. Und nicht zuletzt fordert der Autor eine „Besinnung auf alte professionelle Tugenden“.
Ob das alles der Wucht der heutigen Entwicklung etwas entgegensetzen kann?
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Da sich die Medienbranche in einem radikalen Umbruch befindet, werden immer mehr Abhandlungen, Artikel und Bücher publiziert, die den Wandel zu analysieren versuchen. Plötzlich sind alle Medienspezialisten, auch jene, die keine Ahnung von der Praxis haben. Russ-Mohl hat mehr als eine Ahnung. Sein Buch sticht wie ein Leuchtturm aus der Masse hervor. Es ist eine brutale, detaillierte Analyse der heutigen Entwicklung und lässt nur wenig Raum für Optimismus. Wer sich ernsthaft mit den Medien auseinandersetzen will, kommt um dieses Buch nicht herum.
*) Stephan Russ-Mohl: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde – Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet. Herbert von Halem Verlag, Köln, 2017, 367 Seiten.