Ein krächzender Kinderchor empfängt mich. Über die Lautsprecher dröhnt: „Leise rieselt der Schnee“. Warum auch so laut?
Hunderte kaufen jetzt ein, vielleicht sind es gar Tausende. Die meisten sind ungeduldig, ungehalten. Viele sind unfreundlich, mit den Nerven am Ende: ein Vorweihnachtstag. Jetzt: „Jingle bells, jingle bells, jingle all the way“. Die Version von Frank Sinatra. Ich ertrage das Stück seit Jahren nicht mehr.
Ich weiss, man sollte nicht kurz vor Weihnachten einkaufen. Babys schreien, hilflose Mütter, überforderte Väter. Man drängt sich durch die Menge, ein Einkaufswagen rammt einen anderen. „Können sie nicht aufpassen!“ Jetzt: „Süsser die Glocken nie klingen“. Schnulzige, amerikanisierte Schmachtfetzen, und warum so laut!
Vor dem Joghurt-Gestell ein Drama. Ein kleiner Junge schreit, die Mutter schreit zurück. Er soll sich endlich benehmen, sagt sie. Dazu: „... alles schläft, einsam wacht, nur das traute hochheilige Paar ...“. Der Kleine ist wütend, nimmt einen Joghurt aus dem Regal und schmeisst ihn mit voller Wut auf den Boden. Der Becher zerbricht, überall griechischer Joghurt mit Honig-Geschmack. Aufruhr, die Mutter schreit, der Kleine schreit noch lauter. Der Vater grinst. Wie gerne wäre er jetzt im Büro. „... holder Knabe im lockigen Haar ...“. Ich flüchte in die Käse-Abteilung.
Dort verliert sich ein junger Mann im französischen Käseangebot. Jetzt dröhnt: „Oh Tannenbaum“. Der junge Mann, vermutlich ein Deutscher, summt mit. Doch nicht, wie es sich gehört. Er summt „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, die Oma steckt im Kofferraum.“ Immerhin einer ist entspannt. Er entscheidet sich für einen „Galet de la Loire“-Käse.
Jetzt eine rachitische Sopranistin: „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Diese Musik tut weh. Man könnte die Wände hinaufgehen. Triefender Herz-und-Schmerz-Kitsch. Täusche ich mich oder wird diese Musik jetzt immer lauter? Irgendetwas zieht sich in mir zusammen. Als ob eine Kreide auf einer Wandtafel quietschte.
Die Leute können kaum miteinander sprechen, sie schreien, um die Musik zu übertönen. „... oh Jesu bis zum Scheiden aus diesem Jammertal ...“. Horror, Albtraum. Ich möchte den Kerl vor mir haben, der diese Musik so laut stellt.
Ein Mädchen, drei oder vier Jahre alt, sitzt im Einkaufswagen. Aus einem aufgerissenen Paket isst sie Paprika-Chips. „Leise rieselt der Schnee“, leiert ein gefühlsdusliger Bariton, „... still und starr liegt die See ...“. Jetzt spielt ein Mädchen Hänsel und Gretel. Sie verstreut die Chips auf dem Boden, um den Weg zu markieren. Der Vater kniet nieder und liest sie zusammen. Die Mutter bellt den Vater an, weil er der Kleinen erlaubt hat, das Paket schon jetzt zu öffnen. „... weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, Christkind kommt bald.“ Es schaudert mich.
Vor der Metzgerei wartet ein Dutzend Menschen. Auch ich warte. Plötzlich tauchen zwei Mädchen auf, etwa 16 Jahre alt, ungewaschene Haare. Sie halten ein Plakat hoch. „Fleischfresser, Mörder“. Offenbar spielen sie Greta Thunberg. Vielleicht hoffen sie, verhaftet zu werden und in der Zeitung zu landen. Und jetzt: „I’m dreaming of a white Christmas“, die Version von Bing Crosby. Jetzt skandieren die Mädchen: „Mörder, Mörder“. Kaum jemand nimmt sie zur Kenntnis. Sie eignen sich nicht als Greta Thunberg. Sie landen nicht in der Zeitung. Trotzdem taucht ein Verantwortlicher des Supermarkts auf und führt die beiden zum Ausgang. „.. .may your days be merry and bright“. Jetzt ist wohl nicht der Augenblick, dem Verantwortlichen zu sagen, er solle endlich diese schauderhafte Musik abstellen.
Den Metzger kenne ich. Als ich endlich an der Reihe bin und mein Ossobuco kaufen kann, frage ich, wie er diesen Cauchemar aushält. Er lächelt diplomatisch: „Da müssen wir alle durch.“
Die Gemüse-Abteilung: Frischer Spinat, frischer Fenchel. „Kling, Glöckchen, klingelingeling“. Es ist nicht zum Aushalten. Dieser melodramatische Kitsch soll wohl die Kunden in eine vorweihnachtliche Stimmung lullen, damit sie mehr einkaufen. Bei mir geschieht das Gegenteil: Ich will so schnell wie möglich flüchten. Ohne dieses Hühnerhaut produzierende Geplärre hätte ich wohl viel mehr gekauft.
Vor dem Teigregal spricht mich eine alte Frau an. Deutsch kann sie kaum. Sie streckt mir ein Paket Blätterteig entgegen. Sie will von mir wissen, ob dieser Teig rund oder rechteckig sei. Ich habe wenig Erfahrung in Sachen Blätterteig. „Lesen sie!“, fordert mich die Frau auf. Ich lese, finde aber nichts. „Hier steht nichts“, sage ich. „Natürlich steht etwas“, sagt die Frau forsch. „Können sie nicht lesen, sind sie nie zur Schule gegangen.“ Schon wieder „freue dich, Christkind kommt bald“, diesmal eine gepopte Version, begleitet von zirpenden Geigen.
Ich kämpfe mich zur Kasse durch. Doch der Weg dorthin ist weit. „Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor.“ Kommerzialisierte, bigotte, scheinheilige Religiosität. Es tut weh, nicht nur in den Ohren. Der ganze Körper sträubt sich.
Endlich die Kasse. Ich frage die Kassiererin, wie es ihr geht. Nein, ich frage nicht, ich schreie. Nur so übertöne ich den Schmalz, der aus dem Lautsprecher trieft: „Geht es ihnen gut?“ Sie lächelt mich an. Mit ruhigem Balkandeutsch sagt sie: „Weihnachten ist das Fest der Liebe.“ Na denn.
Jetzt endlich ist der Fluchtweg frei. Es ist die Hölle hier. Nein es ist Weihnachten.
P. S. Nach der Flucht aus dem Supermarkt stehe ich im Stau. Hunderte Autos stehen still. Kein Weiterkommen. Endlich Ruhe, kein Jingle Bell, kein rieselnder Schnee. Der Motor ist abgestellt. Ich sitze ruhig am Steuer. Ein Verkehrskollaps kann erholsam sein: besinnlich und entspannend. Das Autoradio? Ich fürchte das Schlimmste. Ich rühre es nicht an.