Für einen amtierenden Präsidenten, der seine Wiederwahl anstrebt, ist dies das erste Mal, auch wenn die Wiederwahl in der zweiten Runde nie gesichert ist. Das Dilemma für die Stichwahl vom 6. Mai bleibt deshalb dasselbe: die Franzosen wollen nicht mehr Sarkozy, aber nicht unbedingt Hollande. Die Wählergunst hat sich - bei einer hohen Beteiligung über 80 Prozent - aber deutlich nach links verschoben. Marine Le Pen hat mit über 18 Prozent das beste Resultat für den rechtsextremen Front national erzielt. Im Juni entscheiden dann die Parlamentswahlen über die wirkliche Macht des neuen Präsidenten.
Nicht der Wunschkandidat
Alle fünf Jahre wieder: der französische Bürger hat relativ wenig Einfluss auf seine zentralistische Regierung, ausser mit der Präsidentenwahl. Und auch da ist die Wahl limitiert zwischen dem sozialistischen und dem bürgerlichen Kandidaten, ausser man hält die Auswahl zwischen zehn Kandidaten, wie sie am 22. April bestand, für eine echte Auswahl. Es waren schon mehr - mit dem gleichen Effekt. Nur 2002 gab es einen Schock, als Jean-Marie Le Pen nach dem amtierenden Präsidenten Chirac an zweiter Stelle kam und der sozialistische Herausforderer Jospin wegen einem Defizit von 0,7 Prozent an Stimmen rausfiel. In dieser Situation mussten selbst die Sozialisten zu einer "republikanischen" Stimmabgabe aufrufen, das heisst zugunsten des Gaullisten Chirac.
Der Parti socialiste erholte sich von diesem Trauma lange nicht und 2007 gelang es Nicolas Sarkozy leicht, gegen die sozialistische Kandidatin und damalige Lebensgefährtin von Hollande, Ségolène Royale, die Nachfolge von Chirac anzutreten. Hollande war nicht der Wunschkandidat der Partei für 2012. Als Favorit wurde Dominique Strauss-Kahn gehandelt, Direktor des Internationalen Währungsfonds, bevor er sich mit einer seiner notorischen Eskapaden in einem New Yorker Hotel selbst ausmanövrierte. Hollande wurde in "offenen" Primärwahlen im vergangenen Oktober als Spitzenkandidat gekürt. Er war von 1997 bis 2008 Erster Sekretär des PS gewesen, hatte aber zuvor unter sozialistischen Regierungen nie ein Ministeramt inne. Er wäre erst der zweite sozialistische Präsident der Fünften Republik nach Mitterrand (1981-1995).
Populistische Versuchungen
Hollande gilt als Sozialdemokrat, was in seiner Partei nicht unbedingt ein Lob ist, aber für Ausgleich sorgt. Sarkozy ist dagegen ein Mann der Konfrontation, der sich gegen einige eigene Komplexe durchsetzen will. Der Stil seiner Präsidentschaft kam deshalb nicht gut an und er musste sich zuletzt im Wahlkampf für seine Extravaganzen entschuldigen. Hollande konnte sich deshalb als "normalen" Präsidenten vorstellen. Die Diskrepanz zwischen den zwei Persönlichkeiten rückte ihre Wahlprogramme in den Hintergrund und machte den Wahlkampf zunehmend langweiliger. Die damit befürchtete Wahlmüdigkeit blieb aber aus. Von den 45 Millionen Wahlberechtigten gingen über 80 Prozent zur Urne.
Stimmensuche für die Schlussrunde
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat somit die Franzosen eher angestachelt, obwohl sie im Wahlkampf eine untergeordnete Rolle spielte. Sarkozy gab vor, diese Krise im Gegensatz zum übrigen Europa bereits gemeistert zu haben, während Hollande sie zum Teil schlicht ignorierte oder Sarkozy dafür verantwortlich machte. Marine Le Pen spielt sich jetzt als einzige Chefin einer neuen Opposition gegen das "System" auf - was nur der Beweis dafür ist, dass der Front national weiterhin ein populistisches Sammelbecken für diffuse Protestwähler ist, die gegen den Staat, gegen Europa und den Euro, gegen die Immigranten, gegen die Reichen etc. sind. Vor allem Sarkozy - und weit weniger Hollande - zeigte sich anfällig gegenüber populistischen Versuchungen, wobei aber nur Sarkozy offen auf Stimmenfang bei den Rechtsextremen ging - eine Strategie, die er schon 2007 angewandt hatte, die sich aber diesmal nicht auszahlte. Etwa 60 Prozent der Wähler des Front national dürften im zweiten Wahlgang für Sarkozy stimmen, was für einen Sieg aber nicht ausreicht.
Auf der Linken hatte sich der Front de gauche des früheren Sozialisten Jean-Luc Mélenchon einen populistischen Frühling versprochen. Er hatte sich als Kandidat auch die Unterstützung der maroden Kommunistischen Partei sichern können, die froh war, jemand Bekannten zu haben, nachdem sie 2007 weniger als 2 Prozent Stimmen erzielt hatte. Soviel wie diesmal die zwei trotzkistischen Zwergparteien, die 2007 zusammen noch 5,4 Prozent erreicht hatten. Dem Volkstribun Mélenchon, der auf symbolischen Plätzen der Republik Massenaufmärsche organisieren konnte und als revolutionäre Ikone mit seinem Linkspopulismus den Front national übertrumpfen wollte, kam schliesslich nur auf etwa 11 Prozent der Stimmen. Aber alle seine Anhänger werden Hollande wählen.
Zwei Parteien in der Isolation
Das Wählerpotential der Linken nähert sich damit aber trotzdem der magischen Marke von 45 Prozent an, die 1981 zum ersten Sieg von Mitterrand verhalf. Enttäuschend und etwas unerklärlich ist der minime Beitrag der Grünen von 2 Prozent zu diesem Resultat. Interne Streitigkeiten und die umstrittene Kandidatur von Eva Joly, vom Europa-Abgeordneten Cohn-Bendit offen bekämpft, erklären allein diesen Niedergang nicht.
Im Erklärungsnotstand befindet sich auch das Mouvement démocrate (Modem), 2007 vom Zentrumspolitiker François Bayrou gegründet, der 2007 immerhin 18,6 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl gewann, diesmal aber unter 10 Prozent blieb. Als echter Liberaler hat Bayrou in Frankreich keine Chancen. Seine früheren Gesinnungsgenossen haben sich längst der konservativen Rechten angeschlossen.Er hat zwar als einziger immer von der Krise gesprochen, aber er zögert. So sind seine Wähler: die eine Hälfte wird Hollande, die andere Sarkozy wählen.
Gespenstische Informationspolitik
Während die ganze Welt, die es wissen wollte, schon nach 18 Uhr die ersten Trends über Internet und ausländische Medien, belgische und schweizerische vor allem, die ersten Wahlvoraussagen erfuhr, mussten sich die Franzosen in ihrem Land -ausser über Internet- bis 20 Uhr, das heisst bis zur Schliessung der letzten Wahllokale in den Grossstädten, gedulden, bis ihre Medien diese, schrecklich ungenauen, Zahlen liefern durfte. Twitter erfand, um sich über dieses gesetzliche Embargo zu mockieren, vorher kodierte Botschaften wie zur Zeit der Résistance von Radio Londres: Die grüne Brille ist nicht im Lift hiess: Eva Joly hat kein aufsteigendes Resultat. Oder: Die Sängerin ist mit Poulidor verheiratet hiess: Sarkozy ist nur Zweiter (Sarkozys Frau Clara Bruni ist Sängerin, der einstige populäre französische Velorennfahrer Poulidor machte immer Zweiter). Die französische Zeitung Libération, die zuvor tapfer versprochen hatte, das Embargo zu durchbrechen, krebste im letzten Moment wegen der drohenden horrenden Busse zurück. Die vom französischen Staat massiv subventionierte Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP) lieferte dagegen die Vorausresultate unbedenklich an ihre ausländischen Kunden. Währenddessen mussten sich im Radio und am Fernsehen die Moderatoren, die diese Resultate natürlich kannten, diabolisch aufpassen, sich nicht zu verraten. Auch hier eine Gesetzesreform für den nächsten Präsidenten.