Der böhmische Bäderort ist kulturell markiert durch Goethes auf eine unglückliche Liebe antwortende Alterslyrik und einen avantgardistischen Film von Alain Resnais. Beides und einiges mehr klingt nach bei einer spontanen Reise nach Marienbad.
Was fällt Ihnen beim Namen «Marienbad» ein? – Vielleicht Goethe und die 54 Jahre jüngere Ulrike, die den Dichterfürsten mit ihrem Nein – wie Stefan Zweig schrieb – zu «einer der reinsten Strophen über das Gefühl der Hingabe und Liebe, die jemals die deutsche und irgendeine Sprache geschaffen» inspiriert hatte. Oder ist es vielmehr der Film «Letztes Jahr in Marienbad» von Alain Resnais aus dem Jahre 1961?
Vielleicht fällt Ihnen auch gar nichts ein; Sie sind nicht einmal sicher, wo Marienbad eigentlich liegt. – Sie hätten gute Gründe für Ihr Nichtwissen, denn Marienbad, wie auch seine benachbarten Verwandten Karlsbad und Franzensbad, führten für den Westen während Jahrzehnten hinter dem eisernen Vorhang ein vergessenes Mauerblümchendasein.
Als Zwanzigjähriger hatte mich der Marienbader Film in seinen Bann gezogen, wie zuvor schon Resnais’ älterer Film «Hiroshima, mon amour» aus dem Jahre 1959. Hingegen interessierte mich Goethes tragische – oder eher verirrte – Liebe genau so wenig wie es die europäischen Kaiser und Könige taten, welche sich bis anfangs des 20. Jahrhunderts gerne in den berühmten böhmischen Bädern aufgehalten und sich dort in aller Freundschaft getroffen hatten, so Kaiser Franz Joseph I. und der englische König Edward VII., Marienbad im August 1904, zehn Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Vor kurzem, auf der Rückreise von einem Besuch bei Freunden in Sachsen, überkam meine Frau und mich spontane Neugierde. Statt die nervige A9 Richtung Nürnberg zu nehmen, deren rechte Spur meistens durch eine lückenlose Kette von LKWs besetzt ist, fuhren wir von Dresden südwärts ins tschechische Teplice und weiter nach Karlovy Vary (Karlsbad), wanderten dort während einiger Stunden an riesigen Hotels aus der Gründerzeit und zwischen Parkanlagen versteckten Villen vorbei und gelangten gegen Abend ins – so das Versprechen des Reiseführers – kleinere und gemütlichere Marienbad (Mariánské Lázně).
Als man uns auch im zweiten Hotel versicherte, leider seien alle Zimmer besetzt, was wir angesichts der vielen an ihren Haken hängenden Schlüssel nicht so recht glauben konnten, insistierten wir hartnäckig, aber freundlich. Und siehe da, die nette Dame am Empfang fand doch noch freie Zimmer, bat uns um unsere Identitätskarten, war erstaunt, darauf unsere Adresse nicht zu finden, musste sich dann telefonisch irgendwo nach dem zu verrechnenden Zimmerpreis erkundigen und bat uns schliesslich, im Salon Platz zu nehmen, sie brauche für die Formalitäten etwas Zeit. Eine gute Viertelstunde später durften meine Frau und ich dann je ein vom Computer ausgespucktes Formular unterschreiben, dessen Ausführlichkeit mindestens für einen Ehe- und Erbvertrag genügt hätte.
Erst am nächsten Tag, als uns die zuvorkommende Empfangsdame zusammen mit einem Geschenk des Hotels ein Kärtchen in die Hand drückte, mit dessen Hilfe wir künftig selber über das Internet buchen könnten, wurde uns bewusst, dass offenbar kaum noch jemand spontan in einem Hotel um ein Zimmer nachfragt, sondern alle schon selber im Sinne einer «kleinen Eigenleistung» am Computer das Ausfüllen von Formularen übernehmen. Auch die Festlegung eines Zimmerpreises scheint unterdessen an ein «fernes System» delegiert worden zu sein. – Soweit der erste sympathische Beweis marienbadlicher Gemütlichkeit.
Als ich später in unserem glücklich ergatterten geräumigen Zimmer zur Vorbereitung des für den nächsten Morgen geplanten Stadtrundgangs die Karte studiere, schlägt beim Lesen des deutschen Namens der tschechischen Stadt Cheb – Eger – in meinem Gedächtnis ein Blitz ein. Erst im hohen Alter realisiere ich, als Kind mit dieser Gegend aufgewachsen zu sein – zumindest in Form von Erzählungen. Wie oft hatte ich als Bub unsere Haushaltshilfe (sie hätte sich damals selber ohne schlechtes Gefühl als Dienstmädchen bezeichnet) über das Egerland sprechen gehört. Annemarie, von uns Kindern liebevoll Ami genannt, wurde 1953 Teil unseres Haushaltes. Sie sei eine vertriebene Sudetendeutsche, sagte unsere Mutter, hätte beide Eltern verloren, auf der Flucht vor den Russen Schrecklichstes erfahren, sich dann mit ihrer Grossmutter in Aschaffenburg niedergelassen und schliesslich als 23-Jährige durch Vermittlung einer Freundin den Weg nach Basel in die Imboden’sche Fünf-Kinder-Familie gefunden.
Wussten wir damals überhaupt, was Krieg, was Gewalt, was Flucht und Heimatlosigkeit bedeutet? – Vielleicht ahnten wir es indirekt, zum Beispiel wenn Ami, wenn sie einen neuen Brotlaib anschnitt, auf der Unterseite mit dem Messer ein Kreuz zeichnete und dazu etwas murmelte, das wir nicht verstanden, oder wenn sie, die Kinderliebende, ausrastete, wenn wir uns untereinander oder mit den Eltern stritten. Wir hätten keine Ahnung, wie gut wir es hätten und wie verwöhnt wir seien. Manchmal berichtete sie uns dann unter Tränen aus ihrem Leben als Flüchtling.
Und etwa einmal im Jahr, wenn die kindliche Streiterei allzu hohe Wogen geworfen oder meine Mutter etwas scheinbar Undiplomatisches gesagt hatte, packte sie ihre Koffer und türmte sie ostentativ vor der Haustüre auf. Dann mussten wir in den oberen Stock in Vaters Büro eilen – er arbeitete meistens zuhause, denn an der juristischen Fakultät der Universität Basel gab es damals noch keine Büros für Professoren –, weil nur der Hausherr (so Ami) die nötige Autorität hatte, unsere Perle aus dem Egerland zum Bleiben zu bewegen. Er beschwor dann jeweils unsere Ami, ohne sie würde die Familie kollabieren. Sie liess sich jedes Mal überzeugen, denn sie liebte uns alle, trotz unserer sporadischen Gedankenlosigkeiten.
Erst als eines Tages ein Mann mit einem Motorrad auftauchte, Österreicher, von Beruf Kaminfeger, den wir Kinder bewunderten, wenn er Ami mit fliegenden Röcken und flatternden Haaren (ohne Helm!) am Sonntag auf dem Soziussitz entführte, erst dann verliess sie uns schliesslich, nicht im Streit, sondern mit der Familie auf immer verbunden. Ich vergass sie nie, aber die Erzählungen vom Egerland versanken in einem verborgenen Winkel meines Gedächtnisses, wo sie jetzt plötzlich wieder auftauchten …
Zurück nach Marienbad: Am nächsten Tag stehen wir früh auf, wandern durch den menschenleeren Park und nicken den beiden Monarchen Franz Joseph und Edward freundlich zu. Von weitem schon fällt uns eine vornehm gekleidete Gestalt auf, welche unter einem Ahorn auf einem Sessel sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, die Linke in den Ausschnitt des Rocks greifend, hochgeschlagener Kragen, edle Nase, Mundwinkel nachdenklich-skeptisch nach unten gebogen, die Augen in die Ferne schweifend. Wir grüssen beim Vorbeigehen respektvoll, da hören wir eine aus der Zeit gefallene Stimme rufen: «Mein Quartier öffnet in fünf Minuten. Ich erlaube mir, Sie zu begleiten.»
Als wir zurückschauen, ist der Sessel leer. Vor uns stürmt eine Schulklasse mit ihrer Lehrerin durch das Tor der 1818 gebauten ehemaligen Pension «Goldene Traube». Die Dame an der Kasse bittet uns um ein paar Minuten Geduld, sie müsse zuerst den ungeduldigen Schülern ein paar Dinge erklären.
Als wir während des Wartens in einem kleinen Nebenraum eine mit Goldbuchstaben beschriftete schwarze Tafel betrachten («Hier wohnte Goethe in dem Jahre 1823»), steht der vornehme Herr mit der markanten Nase plötzlich neben uns: «In dieser Abstellkammer habe ich selbstverständlich nicht gewohnt, damals im Jahre 1823, 74-jährig, als ich letztmals in Marienbad weilte und mir Ulrikes Mutter die Hand ihrer Tochter verweigerte. Dabei war Ulrike damals doch bereits fast zwanzig! Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen meine damalige Unterkunft.»
Wir folgen dem Herrn in den oberen Stock, wandern mit ihm durch eine Flucht vornehm eingerichteter Räume – Salon, Esszimmer mit Schreibpult, Schlafzimmer – und sehen von weitem im letzten Raum eine Frauengestalt in einem rosa Kleid mit langen braunen Haaren unter einem kecken Strohhut. «Man hat aus ihr einen Vamp gemacht!», empört sich unser Begleiter, «diese Lippen! Als ob sie Botox gespritzt hätte.» Als er sich umdreht und in einer Vitrine zwei Gestalten erblickt, weicht seine Empörung blankem Entsetzen. «Infam! So war es doch nicht! Gebt mir Feder und Papier, ich werde es beschreiben»:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.
Dann ist er weg. – Später, wir sitzen in der grossen Kolonnade neben dem Wasserspiel, welches die singende Fontäne heisst. Plötzlich erklingt aus dem Geplätscher des Brunnens eine Stimme, welche vom Himmel niederzusteigen scheint:
Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde
Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.
(J. W. Goethe, Marienbader Elegie, letzte Strophe)
Bemerkenswert: Ulrike von Levetzow heiratete nie und starb 1899 95-jährig. Sie sagte später, sie hätte damals und auch später nie Lust zum Heiraten gehabt.
PS: Gestern, nach sechzig Jahren, habe ich den Film «Letztes Jahr in Marienbad» wieder gesehen – Google macht’s möglich! Der in Schwarzweiss gedrehte Avantgardefilm erzählt die Geschichte eines Mannes und einer Frau, beide namenlos, welche sich in einem prunkvollen Gebäude begegnen – ob in Marienbad oder anderswo spielt keine Rolle. Er versucht die Frau davon zu überzeugen, dass sie ihn vor einem Jahr schon einmal getroffen und ihm versprochen habe, ihn hier wieder zu treffen und ihm dann zu folgen. Sie wehrt sich gegen diese Erinnerung, aber geht schliesslich, so deutet der Film es an, mit dem Fremden weg. Der betrogene Ehemann besiegt zwar den Fremdling mehrmals in einer speziellen Variante des Nim-Spiels (diese ist heute unter der Bezeichnung Marienbad bekannt), aber verliert schliesslich in der Liebe. Verstand und Gefühl im Widerstreit! – Was hätten Goethe und Ulrike dazu gesagt?