Die auf den 1. November angekündigten Parlamentswahlen in der Türkei werden Schicksalswahlen sein. Es geht dabei darum, ob die Partei Präsident Recep Tayyip Erdogans, die AKP, eine absolute Mehrheit erringen kann oder nicht.
Kurdenpartei als Haupthindernis für Erdogan
Darum ging es bereits in den vorausgegangenen Wahlen von 7. Juni. Damals verfehlte die AKP die absolute Mehrheit. Entscheidend war der relative Erfolg der pro-kurdischen und progressiven Partei DHP (Demokratik Halklar Partisi, Demokratische Partei der Völker), welche 13 Prozent der Stimmen erhielt und 80 Abgeordnete ins Parlament senden konnte.
Der Plural «Völker» steht im Parteinamen, weil es in der Türkei zwei Hauptvölker gibt, die Türken und die Kurden, sowie eine grosse Zahl von kleineren Minderheitsvölkern. Die Partei will dafür sorgen, dass sie alle ein Mitsprachrecht «als Völker» erhalten, was bisher nicht wirklich der Fall gewesen ist. Türkische Nationalisten wollen im Gegensatz dazu alle Völker der Türkei als «Türken» sehen. Sie sind der Meinung, dass jene, die sich selbst als «Nicht-Türken» ansehen und einstufen, kein Anrecht darauf haben, in der Türkei mitzureden.
Der über Erwarten grosse Erfolg der DHP in den Juni-Wahlen hat bewirkt, dass die Mehrheitspartei Erdogans nur eine relative, aber keine absolute Mehrheit erlangte. Dies war ein Schlag ins Gesicht Erdogans, dessen Pläne, die türkische Verfassung so abzuändern, dass er als Präsident in Zukunft ein Machtmonopol hätte, von ihm selbst öffentlich bekannt gemacht worden waren. Er hatte seine Pläne sogar in Stein und Zement manifestiert, indem er sich einen gewaltigen Präsidentenpalast über Ankara erbauen liess, der eines kommenden Sultans würdig sein sollte. Er soll 1150 Säle und Zimmer umfassen und 400 Mio. Dollar gekostet haben.
Doch die absolute Mehrheit, die Erdogan erlaubt hätte, die Verfassung zu ändern, ging ihm in den Juni-Wahlen verloren, nachdem er und seine Partei sie seit 2002 immer innegehabt hatten.
Koalition abgelehnt
Theoretisch hätte die Möglichkeit bestanden, nach den Wahlen vom Juni eine Koalition zu bilden, in welcher die AKP die Mehrheitspartei gebildet hätte. Dies wäre die normale Folge von Wahlen gewesen, in denen keine Partei eine absolute Mehrheit gewinnt. Es gab auch – pro forma – Koalitionsverhandlungen. Doch es war von vorneherein zu erwarten, dass sie erfolglos verlaufen würden. Man kann sagen, Erdogan sorgte dafür, dass sie erfolglos abliefen, indem er es ablehnte, auf die Wünsche seiner möglichen Koalitionspartner einzugehen und auf die Verfassungsänderung mit dem Ziel einer zentralen Machtposition für sich selbst zu verzichten.
Erdogan zog es vor, nach Verstreichen der von der Verfassung auf 45 Tage festgelegten Frist für Koalitionsverhandlungen zu erklären, eine Zusammenarbeit der Parteien sei unmöglich. Deshalb müssten neue Parlamentswahlen durchgeführt werden.
Türkei am Scheideweg
Man kann also sagen: Der einzige Grund für und der einzige Einsatz bei diesen nun bevorstehenden Wahlen ist die zukünftige Stellung Erdogans. Vereinfacht gesagt, wenn seine Partei diesmal die absolute Mehrheit erringt, wird er «Sultan». Wenn nicht, steht die Politik der Türkei vor einem offenen Tor, von dem niemand weiss, auf welchen Weg es hinausführen wird.
Diese Ungewissheit hängt damit zusammen, dass es Erdogan, falls er die absolute Mehrheit verfehlt, schwer fallen würde, nun doch noch den Weg einer Koalition zu begehen und, wie es die geltende Verfassung verlangt, als neutraler und unparteiischer Präsident dem Land vorzustehen, während der Regierungschef die eigentlichen Regierungsgeschäfte leitet und damit die entscheidende Macht ausübt.
Ob und in welcher Form der heutige Präsident eine solche beschränktes Präsidentschaft annehmen und ausüben würde, kann niemand voraussagen. Wahrscheinlich weigert er sich, einen derartigen Wahlausgang auch nur in Betracht zu ziehen. Könnte er abdanken? Oder könnte er noch einmal die Koalitionsverhandlungen platzen lassen und ein drittes Mal Wahlen ausschreiben? Oder würde sich doch noch zu einer «normalen» Koalition bequemen und sich für seine Person mit einer repräsentativen, aber nicht exekutiven Rolle in der Präsidentschaft begnügen? – Zur Zeit weiss man nur: Er hat alles auf die Karte einer absoluten Mehrheit gesetzt, die er diesmal unter allen Umständen gewinnen will.
Erdogan muss auch gewärtigen, dass die Korruptionsvorwürfe, die gegen ihn und seine Partei im Dezember 2013 erhoben wurden, neu vorgebracht werden, falls er an Machtfülle verliert. Diese Vorwürfe konnte er damals Kraft seiner politischen Machtposition abwürgen, ohne dass sie richtig untersucht worden wären.
Ausschaltung der DHP
Erdogans Verhalten und Politik im Vorfeld der Wahlen machte sehr klar, dass er eisern entschlossen ist, seine Pläne diesmal durchzusetzen. Man kann erkennen, dass er in den Kurden und deren politischem Erfolg in den Juni-Wahlen den Hauptgrund für seine (relative) Niederlage sieht. Er ging im Vorfeld der neuen Wahlen entschlossen darauf aus, eine Wiederholung dieses Erfolgs zu vereiteln.
Die DHP wurde unter gewaltigen Druck gesetzt, indem «die Strasse» gegen sie aufgehetzt wurde. Als Demonstranten und Brandstifter dienten die ultranationalistischen Türken, die in der MHT (Nationale Türkische Bewegung) ihre Hauptvertretung haben. Die MHT ist die drittgrösste Partei des Landes. Ihre Aktivisten sind als die «Grauen Wölfe» bekannt.
Sie sind geschworene Feinde der kurdischen Autonomiebestrebungen, und sie liessen sich mobilisieren, um kurdische Geschäfte in den anatolischen Städten zu plündern und in Brand zu stecken sowie Parteilokale der DHP zu Hunderten anzuzünden. Die türkische Polizei hätte sie eigentlich an diesen Aktivitäten verhindern sollen. Sie tat dies auch, aber in aller Gemütlichkeit, oftmals derart, dass sie erst eintraf, nachdem die Übergriffe geschehen waren. Viele der Polizisten selbst sind «Graue Wölfe» oder stammen aus Familien, die der AKP nahestehen.
Die Bombenanschläge von Ankara
In der Vorwahlperiode gab es drei grosse Bombenanschläge mit schweren Blutopfern, darunter am 15. Oktober dieses Jahres in Ankara den verlustreichsten doppelten Selbstmord-Bombenanschlag, den es je in der Türkei gegeben hatte. Er verursachte 102 Tote und gegen 500 Verwundete. Zuvor, am 20. Juli, hatte ein Anschlag ähnlicher Art mit vergleichbaren Sprengstoffen und Methoden in der Grenzstadt Suruç stattgefunden. Damals verloren 34 kurdische und linksgerichtete Aktivisten ihr Leben, die sich versammelt hatten, um der zusammengeschossenen Stadt Kobane, jenseits der syrischen Grenze, Hilfe zu leisten. Noch zuvor, zwei Tage vor dem Wahltag des 7. Juni, hatte der erste Bombenanschlag gleicher Art in Diar Bekir gegen eine Wahlversammlung der DHP stattgefunden mit 2 Todesopfern und gegen 50 Verletzten.
Offiziell wurde IS, das syrische «Kalifat» als verantwortlich für alle drei Anschläge angesehen. Doch die Kurden und Aktivisten der Linken, welche die Hauptopfer der Anschläge wurden, sehen als den Verursacher im Hintergrund die Geheimdienste des türkischen Staates, die auf Befehl der Regierung handeln. Ihr oberster Chef ist Erdogan direkt unterstellt. Manche dieser Ankläger sind der Ansicht, dass die türkische Polizei, mehr oder weniger absichtlich, die Kontrolle der IS-Agenten innerhalb der Türkei sehr lax handhabte, falls überhaupt, und dass sie deshalb Schuld an den Anschlägen mittrage.
Andere gehen weiter und behaupten, «wahrscheinlich» hätten die Geheimdienste im Dienst der regierenden AKP und Erdogans die Anschläge eingefädelt. Als sicher kann gelten, dass die türkische Polizei in der Vorwahlperiode und schon vor der Juni-Wahl mehrmals von Bürgern auf Aktivitäten von IS-Agenten und Sympathisanten in der Türkei hingewiesen worden war, dass aber die Polizisten sich nicht geneigt zeigten, derartige Spuren zu verfolgen.
Abbruch des kurdischen Friedensprozesses
Deutlich ist auch, dass die Polizei sich von der Beobachtung des IS abkehrte und die PKK-Kämpfer als Hauptterroristen hinzustellen suchte. Dies kam daher, dass Erdogan in der Vorwahlperiode den Friedensprozess mit der PKK abgebrochen hatte, nachdem er selbst diesen drei Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte. Der Umstand, dass unmittelbar nach dem Suruç-Attentat eine Gruppe von Jungkurden, die lose zur PKK gehörten, zwei türkische Grenzpolizisten ermordete, anscheinend, um «Rache für Suruç» zu üben, spielte Erdogan dabei in die Hände. Er konnte diese Mordaktion dazu benützen, um die PKK endgültig als Terroristenverband zu verdammen und den Krieg gegen sie mit türkischen Kampfflugzeugen wieder aufzunehmen.
Seither sollen die PKK-Leute gegen 140 Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte getötet haben. Die offiziöse türkische Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi behauptet, die türkische Luftwaffe habe gegen 1700 Terroristen der PKK aus der Welt geschafft. Die Bombardierungen dauern noch an. Doch die Zahlen sind kaum ernst zu nehmen. Wahrscheinlich beruhen sie auf absichtlich maximalisierten Schätzungen der angeblichen Opfer durch die Bomberpiloten und ihre Mannschaften selbst. Wahrscheinlicher sind die Opferzahlen, die im Irak unter den dortigen Kurden umgehen, sie sprechen von gegen 350 getöteten PKK Kämpfern und einer bedeutenden Zahl, vielleicht über 300, von zivilen Opfern.
Dass der Kurdenkrieg und die Kurdenhetze in der Türkei mit wahltaktischen Hintergedanken ausgelöst wurde, lässt sich schwerlich bezweifeln. Der Zweck war, den Erfolg der DHP diesmal zu brechen. Sowie wohl auch, die Sympathie von türkisch-nationalistischen Kreisen für die regierende AKP zurückzugewinnen.
Die Wahlresultate von Juni hatten Stimmenzunahmen für die nationalistische MHP gezeitigt. Diese wurden von Analytikern als Reaktion der nationalistischen Kreise auf den vorausgegangenen Friedensprozess der AKP mit den Kurden erklärt.
Medien gefügig gemacht
Das wahltaktische Vorgehen gegen die Kurden und ihren angeblichen Terrorismus war begleitet von Angriffen auf die regierungskritische Presse. Sie erstreckten sich von Drohungen bis zu polizeilichen Untersuchungen gegen von der Regierung als feindlich betrachtete Journalisten, Redaktionen und Presseholdings, denen Untaten vorgeworfen wurden, wie «Beleidigung des Staatschefs» oder sogar «Verschwörung» gegen die Interessen des Staates. Wenn sich Richter finden, die derartige Verdächtigungen als Anlass zu einer gerichtlichen Untersuchung billigen, können in der Türkei die Angeschuldigten auf lange Zeit in Untersuchungshaft festgesetzt werden.
Es war der Staatsmacht sogar möglich, eine ganze Finanzholding, die unter anderem auch regierungskritische Medien besitzt, vorübergehend zu enteignen und einem Zwangsverwalter zu unterstellen. Der Vorwurf gegen den Besitzer lautete, er sei an einer «Verschwörung gegen den Staat» beteiligt. Dies war der Fall der Koca-Ipek-Holding, welche die Ipec-Medien besitzt. Die Medien, zwei sehr beliebte Fernsehstationen und eine Zeitung, kamen auf diesem Wege unter neue –regierungsfreundliche – Chefredaktionen, die der Zwangsverwalter blitzartig, sechs Tage vor Wahlbeginn, einsetzte. Die Medien wechselten darauf von regierungskritisch zu regierungsbewundernd um.
Diese besonders drastischen Massnahmen zur Gleichschaltung der Presse dienen auch dazu, in vielen anderen weniger sichtbaren Fällen Journalisten und Financiers einzuschüchtern, so dass sie Selbstzensur üben und es sich nicht mehr erlauben, allzu deutlich ihre kritische Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Vertiefung der Spaltungen
All diese scharfen und möglicherweise auch kriminellen Eingriffe der Regierung in den Verlauf der Vorwahldispositionen und Diskussionen führten unvermeidlich zu grossen Spannungen und zu einer gewaltigen Vertiefung der Risse, welche die türkische Gesellschaft durchziehen. Das Land ist heute in zwei Lager getrennt, die sich tief misstrauisch gegenüberstehen und einander die schwersten Verbrechen zutrauen: rücksichtslose und blutige Geheimdienstmanipulationen im Interesse der Mehrheitspartei die einen; Terrorismus der blutigsten Art mit dem Ziel der Zerstörung des Staates die anderen.
Dass diese Risse im türkischen Staat im Verlauf und zum Zweck der Wahlkampagne vertieft worden sind, ist allen Beobachtern deutlich. Doch viel weniger klar ist, ob diese Vertiefung der bereits bestehenden Gegensätze und die Verschärfung der gegenseitigen Anklagen auch substantielle Verschiebungen der Wählermassen über diese Risse und Gegensätze hinweg hervorgebracht haben.
Viele der Wahlauguren gehen davon aus, dass zwar die Gegensätze verschärft und vertieft worden sind, nicht zuletzt durch das vergossene Blut, dass sie aber eher die bereits seit Juni bestehenden politischen Blöcke noch weiter von einander absondern und noch energischer zusammenstossen lassen, nicht aber dazu, Ab- und Zuneigungen über die bereits bestehenden Abgrenzungen hinweg zu verschieben. Sie sagen deshalb voraus, dass das Wahlresultat, trotz aller Verschärfung der Gegensätze seither, ähnlich wie jenes vom Juni ausfallen könnte. Ob diese Rechnung aufgehen wird, oder ob die Eingriffe und Manipulationen der Regierungspartei doch noch eine Änderung – vor allem bei den Wahlresultaten der HDP – zu bewirken vermochten, muss der Wahlausgang zeigen.