In der Türkei wurde der Rechtsstaat nicht ausgehöhlt, er wurde geschlissen.
Nach der Abschaffung der Immunität wartet nun eine Präsidialdiktatur auf seine Installierung. Die Terrorismusgesetzgebung gibt dem Staat totalitäre Machtbefugnisse, Wie es ausschaut, kann nun Erdogan zur Errichtung einer Präsidialdiktatur die nötige Zweidrittelsmehrheit organisieren. In der Türkei sind nun mehr Parlament und Justiz als selbständig entscheidende Institutionen de facto ausgeschaltet, sondern ordnen sich dem Diktat Erdogans unter, schon bevor das Präsidialsystem durchgepeitscht ist.
Vergangenen Freitag hat das türkische Parlament die Immunität von mehr als einem Viertel seiner Abgeordneten aufgehoben. Die 138 Abgeordnetenoffen, die davon betroffen sind, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament. Es geht dabei darum, Parlamentarier aus dem Verkehr zu ziehen, welche Erdogans Linie nicht treu folgen. Am meisten trifft es die prokurdische HDP, bei welcher sich 50 von 59 Parlamentariern ihrer Immunität beraubt sehen. Niemand zweifelt denn auch daran, dass es sich um einen gezielten Schlag Erdogans gegen die HDP handelt, deren Ausschaltung er schon seit deren Einsitznahme im Parlament im vergangenen Juni anstrebt. Erst Recht zur Bedrohung wurde sie, als sie zwar mit leichtem Rückgang, auch bei den Novemberwahlen 2015 die Hürde für den Parlamentseinzug ein zweites Mal überschritt. Hätte sie die 10 Prozent-Hürde nicht überschritten, wäre die für die angestrebte Präsidialdiktatur nötige Zweidrittelsmehrheit Erdogan sicher gewesen.
Ethnische Minderheiten passen nicht ins Bild
Im Falle der Immunitätsaufhebung konnte die Zweidrittelsmehrheit nur erreicht werden, weil ein Teil der CHP, der sozialdemokratischen kemalistischen Partei, die sich sonst als erklärte Gegner von Erdogan bezeichnet, neben der rechtsnationalistischen MHP ebenfalls für die Aufhebung der Immunität eintraten. Das zeigt, dass sich in der Türkei ein gewichtiger Teil des Kemalismus, wenn es gegen die Kurden geht, mit Erdogan zusammenspannt. Sie haben inzwischen den gleichen Hauptfeind, die Kurden.
Das hat auch seinen guten Grund, denn die Nichtanerkennung der Kurden als Minderheit und eigenes Volk und deren steten Unterdrückung und Zwangsassimilation gehörte zum Kernprogramm des Kemalismus. Der Kemalismus brachte nach dem ersten Weltkrieg den ersten modernen türkischen Staat hervor. Hervorstechend war seine laizistische Grundlage. Das schweizerische Zivilgesetz wurde zum türkischen Zivilgesetz. Allerdings wurden ethnische Minderheiten nicht toleriert, sie passten nichts ins Bild eines türkischen Einheitsstaates, dessen türkischen Charakter mit der Planierraupe verteidigt wurde.
Parlamentsgruppe Schweiz-Türkei
1984 eskalierte der Konflikt mit den Kurden. Nach dem Putsch von 1980, der zur Installation einer brutalen Militärdiktatur führte, nahm die Repression gegen die Kurden zu. Diese evozierte Aufstände, die vor allem von der PKK angeführt wurden. In der Folge führte die türkische Armee, die Teil der Nato ist, wenn man so will also auch indirekt die Nato, einen schmutzigen Krieg gegen die Kurden, bei welchem fraglos auch die PKK nicht zimperlich agierte. Der Krieg endete in einem Patt, beiden Seiten musste klar geworden sein, dass sie die Kurdenfrage militärisch nicht lösen konnten.
Nach dem überragenden Wahlsieg der APK 2002 übernahm Erdogan am 12. März 2002 den Posten des Ministerpräsidenten und es begann die bis heute andauernde Erdogan-Ära. Das Paradoxe ist: obgleich die APK eine islamistische Partei ist und Erdogan fraglos mittelfristig einen islamistischen Staat anstrebt, begannen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse anfänglich eher zu pluralisieren, auch bezüglich den Kurden begann sich das Klima zu lockern. Bekannt ist, dass Erdogan mit dem Vorsitzenden der PKK Öcalan während langer Zeit Geheimgespräche über eine Lösung des Kurdenproblems führte. Der wirtschaftliche Aufschwung war beachtlich. Eine gewisse Ehrfurcht vor dieser Dynamik dokumentierte sich auch in der Bildung eine Parlamentsgruppe Schweiz-Türkei, die von Andreas Gross und Alec von Graffenried präsidiert wurde.
Krieg gegen das kurdische Volk
Allerdings führte der Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Jahre 2011, der alsbald in einen Regionalkrieg überging und inzwischen längst zu einem Weltkonflikt geworden ist, zu einem abrupten Positionswechsel Erdogans. Pflegte er mit Syrien bis 2011 sehr gute Beziehungen, unterstützte er ab jetzt politisch, wirtschaftlich und vor allem auch militärisch die Anti Asad-Front und ihre einzelnen Akteure, sehr wohl auch den IS im Bestreben, Asad zu stürzen und Hauptprofiteur einer Neuaufteilung Syriens werden. Gleichzeitig wuchs seine Angst vor dem Entstehen eines kurdischen Staates, denn tatsächlich entstand im Gebiet um Kobane eine von den Kurden selbstverwaltete Zone, die auch von der PKK unterstützt wird, was bei Erdogan alle Alarmglocken zum Schrillen bringen musste.
Inzwischen führt Erdogan einen brutalen und schmutzigen Krieg gegen die Kurden. Wer in den letzten Wochen in den Fernsehnachrichten wo auch immer die Bilder von Djarbakir gesehen hat, ermisst, mit welcher unerbittlichen Brutalität die Armee vorgeht, sie führt einen Krieg gegen das kurdische Volk. Erdogan weiss, dass die PKK diesen Krieg nicht wollte, inzwischen auf eine politische Lösung setzt. Dass kleine Abspaltungen der PKK zu provokativen terroristischen Aktionen Schritten, ist möglich. Sie haben aber nichts mit der PKK zu tun, die nun aber die türkische Armee in einen erbitterten Krieg hineingezogen hat. Indessen ist es längst mehr als ein Gerücht, dass die meisten in der letzten Zeit verübten Anschläge unter tätiger Mitwirkung des türkischen Geheimdienstes erfolgten.
Flüchtlingsdeal - unhaltbar geworden
Den grössten Dorn im Auge ist Erdogan die HDP, die er wider besseren Wissens und zu Unrecht als Ableger der PKK bezeichnet. In ihr vereinigen sich verschiedene kurdische Kräfte, natürlich auch solche, die nahe der PKK stehen, wie auch nicht-kurdische Linke und Kulturschaffende. Diese Partei, welche den Kurden zu einer neuen politischen Repräsentanz verholfen hat, will Erdogan vernichten und damit verhindern, dass diese Kräfte, die sich seiner diktatorialen Politik als einzige grundsätzlich widersetzen, weiterhin eine Schlüsselstellung im Parlament einnehmen. Das gleiche praktiziert er mit kritischen Journalisten.
Sicher ist es unabdinglich, die Auffanglager für die drei Millionen Flüchtlinge, die inzwischen in der Türkei weilen, mit grossen finanziellen Aufwendungen durch die EU zu unterstützen. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist indessen unhaltbar geworden. Denn die EU baut ihre Flüchtlingspolitik auf die Dienste eines Staates, der im syrischen Krieg längst Partei ist und gleichzeitig gegen das eigene türkische Volk Krieg führt, um sich vom Flüchtlingsströmen abschotten zu können.
Merkles Unterwerfung
In den letzten zwei Tagen weilte Angela Merkel in Istanbul. Wie sich das so gehört, sprach sie sonntags auch mit Vertretern von NGOs. Freilich befanden sich unter diesen keine Vertreter der HDP, von Kurdenorganisationen oder von verfolgten Journalisten. Zudem betont sie, dass es sich bei der PKK weiterhin um eine in Deutschland verbotene Terroristenorganisation handelt, was angesichts der konkreten Entwicklung der PKK und ihrer wesentlichen Stellung im gesamten Regionalkonflikt eine Dummheit darstellt. Mit diesem Vorgehen dokumentiert sie viel deutlicher als mit dem was sie so sagt, dass sie sich den Spielregeln Erdogans unterwirft.
Pikant ist: viele nicht zuletzt rechte EU-Politikerinnen und Politiker wollen als weiteres Schutzschild gegen den Islam keine Gewährung der Visafreiheit, deren Auswirkungen, wie Studien zeigen, keineswegs gross wären. Verknüpft ist die Visa-Freiheit mit der Aufhebung der Antiterrorgesetzgebung, die Erdogan nie fallen lassen wird. Auf der andern Seite kümmern sich aber in unseren Regionen nur wenige darum, was mit den aus Griechenland rückgeschafften Personen, welche von der Türkei nicht als syrische Flüchtlinge anerkannt werden, im rechtslosen Elendsstatus real geschieht.
Doppelzüngigkeit
Solange die EU an der Fiktion des Abkommens mit Erdogan festhält, führt sie sich als Garanten des Rechtsstaats und des Minderheitenschutzes, der nach eigener Darstellung ihre Identität ausmacht, selbst, ad absurdum. Spätestens, wenn es wärmer wird, wird sich zeigen, dass die Türkei-Lösung eine in vielem menschenfeindliche Scheinlösung ist. Die Zahl der im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge nimmt wieder drastisch zu. Auch die Nato könnte, wenn sie wollte, dem Krieg der türkischen Armee gegen die Kurden von einem Tag auf den andern Einhalt gebieten. Freilich braucht sie die Türkei weiterhin als Brückenkopf im Nahen Osten, was zusätzlich die westliche Doppelzüngigkeit der Kritik an Erdogan unterstreicht.