Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Staat zum Gralshüter der «heiligen türkischen Nation» erklärt, die allein über die Wiedereröffnung der Hagia Sophia als Moschee zu entscheiden habe. Am 10. Juli hat der türkische Staatsrat stellvertretend für die Nation entschieden: Vom 24. Juli an wird die Hagia Sophia wieder allein als Moschee dienen.
Europäer, Russland und die christlichen Kirchen reagierten mit Befremden und Empörung, den Papst schmerzt es, und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» argwöhnte, dass schon bald islamische Ikonoklasten die Mosaike in der Moschee zerstören werden. Doch was steckt hinter dem türkischen Vorgehen?
Probeläufe
Für die Aufhebung des Museumsstatus der Hagia Sophia gab es drei Probeläufe, die in der westlichen Öffentlichkeit kaum bekannt wurden: Die aus dem 4. Jahrhundert stammende Hagia Sophia in Iznik (Nicäa), die 1337 zur Moschee und 1935 Museum geworden war, wurde im November 2011 auf Geheiss des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arinc wieder zur Moschee, nachdem sie schon zuvor mit einem ästhetisch kaum harmonisierenden Minarett ausgestattet worden war.
Ein Jahr später bestimmten die Behörden, dass auch die ehemalige byzantinische Kuppelkirche Hagia Sophia in der nordtürkischen Hafenstadt Trabzon (Trapezunt), die 1964 zum Museum geworden war, als Moschee wiedereröffnet werden solle. Und im Dezember 2019 entschied der türkische Staatsrat, dass das Kariye-Museum im Istanbuler Stadtteil Fatih, also die ehemalige byzantinische Chora-Kirche, wieder in eine Moschee umzuwandeln sei.
Ein kultureller Zwitter
Die Hagia Sophia ist eine der vielen Bauten, die durch die Geschichte zum kulturellen Zwitter wurden. Nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Armee von Sultan Mehmed II. 1453 wurde die Basilika zur Moschee, behielt aber ihren Namen. Sie wurde zur Grossen Heiligen Sophia-Moschee (Ayasofya-i Kebir Camii). Die Osmanen tradierten so den christlichen Namen, den der Sakralbau im 5. Jahrhundert erhalten hatte.
Die byzantinische Geschichte des Baus wurde auch von osmanischen Chronisten herausgestellt: Schon im späten 15. Jahrhundert wurden zum Teil legendenhafte Darstellungen der Geschichte der Kirche verfasst. Architektonisch behielt der Bau nach 1453 den Charakter einer Basilika, der schon der ersten Ausführung unter Kaiser Konstantins Sohn Constantius zugrunde gelegen hatte. Es waren vor allem die Erweiterungen mit den vier Minaretten und weiteren Anbauten, die den Bau später äusserlich als Moschee erkennbar machen sollten. Schon Mehmed II. hatte an der Südseite des Baus ein Minarett errichten lassen, im späten 16. Jahrhundert folgten die anderen drei.
Der gewaltige Innenraum wurde nach und nach zu einem grossen Gebetsort umgestaltet. Bis ins 17. Jahrhundert waren die byzantinischen Mosaiken noch gut sichtbar gewesen, wurden dann aber mit Kalk übertüncht. Abgerissen wurde die Ikonostase, die dreitürige mit Ikonen geschmückte Wand, die Priester von Laien getrennt hatte, die Gebetsrichtung nach Osten (Jerusalem) wurde neu nach Süden (Mekka) ausgerichtet, und schliesslich wurde auch die Plattform (Bema), von der aus die orthodoxen Priester predigten, abgerissen.
Das Ergebnis war auch im kulturellen Gedächtnis der Osmanen ein Zwitter, der wie schon zu Kaiser Justinians Zeiten die Herrlichkeit der herrschenden Dynastie repräsentieren sollte. Die Hagia Sophia wurde zu einem osmanischen Bau, dessen islamische Symbolordnung dazu diente, der Dynastie Legitimation zu verschaffen.
Ein anderer berühmter Zwitter ist die Mezquita-Catedral (Moschee-Kathedrale) de Córdoba. Dieser Bau, der zwischen 784 und 988 errichtet worden war, wurde 1236, im Jahr der Eroberung Córdobas durch Truppen unter Ferdinand III. von Kastilien, zur Kirche geweiht. Das Minarett erhielt ein Kreuz, im späten 15. Jahrhundert wurde zunächst ein gotisches Kirchenschiff in den Bau integriert, hundert Jahre später wurde der Innenraum gänzlich zu einer Kirche im Stil der Frührenaissance umgebaut. Für die katholische Kirche kam eine Rückumwandlung selbst von Teilen der Mezquita in eine Moschee nie in Betracht. So wurde die Mezquita nie profanisiert und nie zu einem Museum.
Der türkische Kulturkampf
Anders die Hagia Sophia: 1934 hatte Präsident Kemal Atatürk verfügt, dass die Hagia Sophia nicht länger ein Ort der islamischen Religionsausübung sein sollte, sondern ein Museum. Nun wurden die übertünchten Mosaiken freigelegt, unter anderem die Darstellung einer thronenden Madonna mit Kind, umgeben von den Kaisern Konstantin (mit einem Modell der von ihm gegründeten Stadt) und Justinian (mit einem Modell der Kirche St. Sophia) und eine Darstellung des thronenden Christi mit einem Kaiser (Basilius I.?). Damit hatte der Bau den Charakter einer hybriden Erinnerungsstätte gewonnen.
In der türkischen Öffentlichkeit wurde schon seit 2005 für die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee geweibelt. Um die Hagia Sophia wurde ein regelrechter Kulturkampf ausgetragen. Säkularistische Republikaner betonten, dass die Hagia Sophia eines der wichtigsten Symbole der kulturellen Vergangenheit des Landes und daher die religionsunabhängige Nutzung richtig und zwingend sei. Eine nichtstaatliche Vereinigung für Denkmalschutz und Umwelt hatte im November 2016 Klage auf Annullierung der Entscheidung des türkischen Ministerrates vom 24. November 1934 über die Umwandlung der Hagia Sophia in ein Museum eingereicht. Sie nutzte das Momentum, das durch die Niederschlagung des Putschversuchs vom 15./16. Juli 2016 bestand. Die Zustimmung für die islamisch-nationalistische Politik der AKP und des Präsidenten Erdoğan hatte deutlich zugenommen.
Doch erst im Frühjahr 2018 liess sich der Präsident selbst in die Karten schauen: Am 31. März 2018 rezitierte er in der Hagia Sophia die Eröffnungssure des Korans und sprach ein Gebet für Sultan Mehmed II. Damit symbolisierte er den Beginn einer «Ent-Atatürkisierung» der politischen Ordnung. Die Entscheidung Atatürks von 1934, die Hagia Sophia in ein Museum umzuwandeln, nannte Erdoğan ein Jahr später «einen sehr grossen Fehler».
Der 567. Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel 2020 wurde mit einer grossen Feier in der Hagia Sophia begangen, zu der auch ein öffentliches islamisches Gebet gehörte. Damit war die Wiederaneignung der Hagia Sophia durch den Staat vollzogen. Am 10. Juli 2020 hob die 10. Kammer des Staatsrates unter Yılmaz Akçil die Entscheidung von 1934 endgültig auf. Die Hagia Sophia wurde nun wieder dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten unterstellt und erhielt ihren Status als Moschee zurück.
Das Präsidium liess verlauten, dass die Hagia Sophia einen ähnlichen Status wie die Kirchen Sacré-Cœur und Notre-Dame in Paris haben werde: Sie sei nun wieder ein Kultort, zugleich aber ein Bau, der allen Besuchern der Welt offen stünde. Die «Ikonen» und Mosaiken würden nicht angerührt. Durch ihre Entscheidung, die Hagia Sophia zum Weltkulturerbe zu erheben, habe die Unesco deutlich gemacht, dass der Bau, so wie er heute besteht, auch das islamisch-osmanische Erbe einschliesse. Und diesem Erbe würde heute wieder Rechnung getragen. Dieser Auffassung hat sich auch der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, Politiker der Republikanischen Volkspartei (CHP), angeschlossen.
Die Neuerfindung der Nation
In einem Interview mit der BBC brachte der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk den Streit auf den Punkt: «Sie (die Hagia Sophia) wieder in eine Moschee umzuwandeln, bedeutet, dem Rest der Welt zu sagen, dass wir leider nicht mehr säkular sind.» Tatsächlich rückt die türkische Regierung mehr und mehr von der alten Vorstellung der Republikaner ab, dass die türkische Nation allein durch eine säkulare Ordnung des Türkentums (Türkçülük) weiter bestehen kann. Die Gleichsetzung von säkularem Staat und türkischer Nation, die den Kern der Politik von Atatürk ausgemacht hatte, ist für Erdoğan nicht mehr gültig.
Doch anders als Verfechter eines radikalen Islamismus erwartet er die Erneuerung der türkischen Nation nicht in einer religiösen Ordnung. Vielmehr gelte es, einen «Niedergang der türkischen Nation» um jeden Preis zu verhindern. Diesem Staatsziel stimmen sicherlich grosse Teile der Bevölkerung zu.
Nur sind sich die Parteien nicht einig, auf welcher Grundlage die türkische Nation fortbestehen soll. Erdoğans AKP hat sich hier schon seit Jahren klar festgelegt. Die türkische Nation kann nur überleben, wenn sie sich historisch neu erfindet. Unter Atatürk war das Türkentum Heilsträger der türkischen Nation, die sogar über die Religion Souveränität ausüben sollte. Die Bevölkerung sei der Nation untertänig. Daher seien alle Untertanen notwendig «Türken».
Doch diese Vision hat sich seit den 1970er Jahren in den Augen vor allem des Mittelstands in Anatolien als Trug erwiesen. Sie hatte die soziale, politische und kulturelle Abspaltung einer Vielzahl von Gemeinden, die sich nun als kurdisch und/oder als alevitisch verstanden und das Aufkommen der PKK und anderer Verbände nicht verhindern können. In den 1980er und 1990er Jahren schien die türkische Nation nur noch eine Fiktion zu sein, zerrieben in einem Bürgerkrieg zwischen Separatisten, Sezessionisten und radikalen Islamisten.
Neo-Osmanismus
Seit den Parlamentswahlen von 2002, die aufgrund der neuen 10-Prozent-Hürde zu einer weitgehenden Neustrukturierung der politischen Repräsentationsordnung geführt und die der AKP fast eine Zweidrittelmehrheit der Sitze beschert hatte, versuchte Erdoğan, die «Nation» durch einen «neuen Osmanismus» (Yeni Osmanlıcılık) wiederzubeleben.
Mitte der 1990er Jahre hatte die Weltöffentlichkeit erstmals von dieser Neuerzählung des türkischen Nationalismus Kenntnis genommen. Damals hielt man ihn noch für ein nostalgischen modischen Schick oder Stil. Ein politisches oder soziales Programm war nicht ersichtlich. Selbst als der Übervater des türkischen politischen Islam, Necmettin Erbakan, 1996/97 als türkischer Ministerpräsident amtierte und zu einer Neubewertung der Herrschaft der osmanischen Sultane aufrief, lag der Gehalt dieser Neuausrichtung noch im Dunkeln. Doch mit dem Wahlsieg der AKP 2002 und dem Machtantritt Erdoğans 2003 gewann das Narrativ Konturen.
Unbestritten blieb die normative Festlegung, dass die Nation der einzige und eigentliche Souverän zu sein habe, dass allein der Staat die Nation repräsentiere, dass die Bevölkerung des Landes Untertanen dieser Nation seien und dass das Türkentum aus einer einzigen Nation bestehe.
Damit habe allein die Nation das Recht zu entscheiden, in welcher Ordnung die Angehörigen der Nation zu leben haben. «Wenn diese Nation will, wird der Säkularismus natürlich verschwinden», hatte Erdoğan schon 1994 verkündet. Dies bedeutet notwendigerweise auch eine Neuaushandlung dessen, was die Turkizität der Nation konstituiert. Unter Mustafa Kemal, der just 1934, als die Hagia Sophia zum Museum geworden war, den Übernamen Atatürk («Vater der Türken») angenommen hatte, bestand diese Turkizität aus einer rassisch definierten Zugehörigkeit und aus einem als Laizismus bestimmten «geschichtlichen Zivilisationsauftrag».
Für Erdoğan hingegen beweist sich die Turkizität der Nation im Imperium der Osmanen, deren historische Bestimmung in der Durchsetzung einer auf dem Islam gründenden Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit beruhe. Die Turkizität bleibt «türkisch», wie auch die Hofsprache der Osmanen das Türkische war. Dieses Türkische war aber eine Mischsprache, in der das eigentliche Türkische die syntaktische und grammatische Rahmenordnung für zahllose arabische, persische und später auch griechische Substrate war.
Turkizität, über die die Nation verfügt, bedeutet für Erdoğan Inklusion, die der Hegemonie des Türkischen untersteht. Daher sind in seinen Augen Kurden, Zaza, Griechen oder Armenier Angehörige der türkischen Nation, solange sie die Souveränität der Nation und ihre Turkizität anerkennen.
Neo-Nationalismus
Das neue Narrativ der türkischen Nation ist also nicht islamistisch im engeren Sinn, sondern neo-nationalistisch. Der Islam ist zwingende Zutat dieses Narrativs, insofern er Teil des zivilisatorischen Auftrags der türkischen Nation ist. Dieser Auftrag wird oft auch als Vollzug einer koranischen Bestimmung angesehen. In Sure 5:54 heisst es: «Ihr, die ihr gottestreu seid, wenn unter euch jemand seinem Kult abtrünnig wird, dann wird Gott Leute bringen, die er liebt und die ihn lieben, die den Gottestreuen gegenüber demütig sind, den Ungläubigen gegenüber mächtig, die sich einsetzen auf Gottes Weg und den Tadel des Tadelnden nicht fürchten.»
Mit diesem Vers hatte schon der kurdisch-osmanische Gelehrte Said Nursî seinen osmanischen Nationalismus rechtfertigt. Die Osmanen werden nun zu von Gott gebrachten Leuten, deren Ordnung sich auch in einer imperialen Hoheit über arabische Länder verwirklicht habe. Für Erdoğan ist die türkische Nation Trägerin einer islamischen Zivilisation, die nun in der Hagia Sophia einen symbolischen Ort gefunden hat.
Nun, wo sich gemäss Erdoğan die türkische Nation als neues Imperium begreifen sollte und wo die türkische Regierung die Zielsetzungen einer imperialen Politik im östlichen Mittelmeerraum absteckt, braucht sie eine symbolische Repräsentation ihrer Mächtigkeit und Heiligkeit, und genau diesem Zweck hatte die Hagia Sophia seit ihrer oströmischen Gründungszeit stets gedient.
Risiken
Allerdings ist die türkische neo-nationalistische Politik mit vielen Risiken behaftet. Nicht nur macht sie sich von strategischen Erfolgen im benachbarten Ausland abhängig. Sie geht auch von der Erwartung aus, dass die sozialen, ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei selbst einen Sinn in der islamisch-zivilisatorischen Neubestimmung der Turkizität sehen. Denn nur, wenn dieser Sinn mehrheitlich und auch unter den Minderheiten selbst auf Zustimmung trifft, kann Erdoğans Vision gelingen.
Zudem ist Erdoğans Spiel mit dem Islam riskant: radikale Islamisten werden sagen, dass der Islam der Souverän der Gesellschaft und der Nation zu sein habe – und nicht anders herum. Sie werden, wie schon einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Hagia Sophia das Herrschaftssymbol der Neuen Sultane und eines neuen «Byzantinismus» sehen, den der Islam zu überwinden habe.
Aussenpolitisch werden Regimes wie jene Ägyptens, Saudi-Arabiens oder der Vereinigten Arabischen Emirate, die sich gleichfalls einer neo-nationalistischen Politik befleissigen, sich in ihrer antitürkischen Haltung und ihrer Warnung vor einem türkischen «Imperialismus» bestätigt sehen. Es kann also sein, dass die türkische Euphorie schnell verfliegen wird.