Jedenfalls war es ohne Zweifel die grösste Massendemonstration, die die Türkei je erlebt hat. Die Behörden hatten sie vorbereitet. Alle Bürger der Grossstadt wurden aufgefordert, nur mit türkischen Flaggen, ohne Parteizeichen, zu erscheinen und teilzunehmen. Der Transport zum Platz war gratis. Wasser wurde verteilt. Vom Morgen an gab es Militärmusik, Janitscharen Paraden, Flugzettel mit dem Motto „Der Sieg gehört der Demokratie, die Plätze dem Volk.“ Eine riesige Mauer war errichtet worden, die die Namen der 240 zivilen Todesopfer des Staatsstreichversuches vom 15. Juli trug. „Die Nation dankt Euch“, stand darauf.
Alle Parteiführer ausser einem
Die Zusammenkunft war unter dem Titel „Demokratie- und Märtyrer-Treffen“ angekündigt. Alle Parteiführer ausser einem waren geladen und nahmen teil. Auch der Generalstabschef sprach. Nicht eingeladen war Selahettin Demirtasch, der Chef der pro-kurdischen Partei HDP, obgleich auch seine Partei, wie Erdogan selbst einräumte, den Putschversuch von Beginn an verurteilt hatte. Erdogan erklärte in seiner Rede die Ausschliessung mit den Worten: „Ich könnte es den Familien der Märtyrer und den Veteranen der Armee nicht erklären, wenn ich Leute einladen würde, die mit der PKK zusammenarbeiten.“
Der Vorsitzende der grössten Oppositionspartei, der CHP Atatürks, Kemal Ciliçdaroglu, äusserte Bedauern über die Ausschliessung der drittgrössten Parlamentspartei, die immerhin 6,5 Millionen Stimmen in den letzten Wahlen erhalten hatte. „Ich hätte gewünscht, dass alle vier Parteiführer an diesem wichtigen Tag mit dabei wären“, merkte er an. Ciliçdaroglu selbst hatte gezögert, ob er bei dem Treffen mitwirken wolle. Erdogan persönlich hatte ihn eingeladen. Doch erst als auch der Regierungschef, Binali Yıldırım, die Einladung wiederholte, gab er sich einen Ruck. Er sagte in seiner Rede, vorsichtig aber klar: „Wir müssen studieren, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, um eine Lösung zu finden. Wir müssen alle die Lehren daraus ziehen. Wir müssen die Politik von den Moscheen, von den Gerichten und von den Kasernen fernhalten.“ Er fuhr fort: „Republik und Säkularismus sind wichtig für die Türkei. – Wenn wir keine Republik wären, wäre Recep Tayyip Erdogan nicht Präsident!“
Erdogan im Mittelpunkt
Die Zusammenkunft war ganz auf Erdogan eingestimmt. Es herrschten Einmütigkeit und Begeisterung für ihn. Der Anführer der vierten im Parlament vertretenen Partei, der Nationalen Partei (MHP), Devlet Bahceli, stimmte voll ein. „Ihr seid aufgestanden gegen die Verschwörer, die uns spalten wollten. Ihr habt Euch geweigert, die Niederlage hinzunehmen. Die Nation ist hier! Ihr Wille ist hier! Kein Verräter kann uns besiegen, solange wir diesen Geist bewahren!“, rief er der Versammlung zu.
Präsident Erdogan selbst hielt natürlich die Hauptrede. Die Frage des Todesurteils war ein wichtiger Punkt darin.Der Präsident sagte: „Die Führer der politischen Parteien sind hier. Sie wissen, ihr fordert die Todesstrafe. Das Parlament muss entscheiden. Ich werde seine Entscheidung in dieser Hinsicht billigen. Die politischen Parteien werden mit grosser Wahrscheinlichkeit das Begehren des Volkes annehmen. Man sagt uns: Es gibt keine Todesstrafe in der EU. Doch die USA haben sie, Japan hat sie, China hat sie. Die grössten Teile der Welt haben sie. Sie dürfen sie haben. Wir hatten sie auch bis 1984. Die Souveränität gehört der Nation. Wenn die Nation diesen Entschluss trifft, werden die politischen Parteien ihm gewiss zustimmen.“
Doch Erdogans wichtigste Aussage war wohl: „Wir müssen nun alle Mitglieder dieser Organisation entlarven und im Rahmen der Gesetze ausmerzen. – Aber wenn wir uns darauf beschränken, nur das zu tun, dann werden wir als Staat und Nation unsere Verteidigung gegen den Virus schwach halten.“
Druck auf das Parlament
Damit waren über die Frage der Todesstrafe hinaus die wesentlichen Motive angesprochen, die durch die Massendemonstration erreicht werden sollten. Den Parlamentsparteien (mit der einen Ausnahme der ausgeschiedenen Kurdenpartei) sollte klar gemacht werden, was „das Volk“ oder „die Nation“ wolle. Nämlich nicht nur die Todesstrafe für die Verschwörer, sondern darüber hinaus eine Umgestaltung des türkischen Staatswesens, so dass dieses sich besser gegen den „Virus“ der Subversion verteidigen könne.
Mit anderen Worten: Es ging darum, das Parlament unter Druck zu setzen, so dass es sich „dem Willen der Mehrheit“ fügt. Diese Mehrheit, so suchte Erdogan durch die gewaltigen Volksmassen, die er zusammenbrachte, zu demonstrieren, begehre das, was ihm – Erdogan – vorschwebe, nämlich eine Neuorganisation des Staates, so dass er sich gegen die Angriffe von anders Gesonnenen – im In- und im Ausland – besser zur Wehr setzen könne.
Ein „Neuanfang“ für die Türkei
Zu diesem Zweck rief Erdogan die Opfer des Staatsstreichs als Zeugen („Märtyrer“) auf. „Ich denke an die Brüder, die am 15. Juli den Gewehren entgegentraten und Panzer und Helikopter blockierten. In Jener Nacht haben Millionen von Bürgern wortwörtlich den Tod herausgefordert und ihre Namen in die Geschichte eingeschrieben.“ Er verglich diesen Sieg mit den Grosstaten der türkischen Geschichte. „Niemand kann heute die Nation gefangen halten“, schloss er.
Ministerpräsident Binali Yıldırım schlug, wie zu erwarten, in die gleiche Kerbe. „Danke für Eure Solidarität“, sagte er. „Wir sind heute die Türkei. Der 15. Juli war ein Versuch, uns zu okkupieren. Der 15. Juli ist unser zweiter Unabhängigkeitskrieg. (Alle Türken wissen, den ersten Unabhängigkeitskrieg hat Atatatürk 1921 bis 1923 geführt). Jeder Schlag, der uns nicht tötet, stärkt uns. Wir fordern nicht Rache sondern Gerechtigkeit.“ – Der 15. Juli ist bereits zum nationalen Feiertag bestimmt worden.
Die Regierung schafft Fakten
Während die Mehrheitspartei durch das Mittel der Massenversammlung dem Parlament nahelegt, sich an die „Wünsche des Volkes“ zu halten, ist die Regierung nicht müssig geblieben. Dank dem zunächst auf drei Monate angesetzten Notstand ist sie in der Lage, Dekrete zu verabschieden, die Gültigkeit erlangen, ohne dem Parlament vorgelegt worden zu sein. Nach Aufhebung des Ausnahmezustandes muss die Versammlung sie allerdings nachträglich bewilligen, wenn sie gültig bleiben sollen. Dies kann mit einer einfachen Mehrheit geschehen, über welche die Partei Erdogans verfügt.
Zu den Dekreten, die bereits erlassen wurden, gehören solche, die das Armeewesen den politischen Behörden derartig bedingungslos unterstellen, wie dies früher in der Türkei seit der Osmanischen Zeit nie der Fall gewesen ist. Bis zu dem versuchten Staatsstreich hatte sich die Armee eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt. Sie sah sich selbst und galt den meisten Bürgern als eine überpolitische Institution, die sich selbst regierte und rekrutierte und zu deren Aufgaben es gehörte, die Türkei auf dem Wege zu halten, den Atatürk vorgezeichnet hatte: Säkularismus und Republikanismus als wichtigste Pfeiler. Die Selbstständigkeit der Armee war so weit gegangen, dass sie mehrmals, 1960, 1971 und 1981 mit Gewalt, und 1997 durch ein einfaches „E-mail-Memorandum“, die gewählten Regierungen stürzte, weil die führenden Offiziere der Ansicht waren, dass diese ihre Pflichten nicht erfüllten
Generäle zu Präsidenten
Es war nicht die Regel, jedoch meistens der Fall, dass ehemalige Armeechefs und Generäle zu Staatspräsidenten gewählt oder bestimmt wurden: Atatürk, Inönü, Gürsel, Korutürk, Evren, Sezer. Die wichtigsten Ausnahmen waren die Poitiker Bayar, Özel und Demirel. Bayar wurde 1960 durch den damaligen Staatstreich abgesetzt, zum Tode verurteilt, aber später begnadigt. Ob Özal 1993 vergiftet wurde oder an einem Herzschlag starb, ist bis heute unklar. Nur Demirel überlebte seine letzte Amtszeit um etliche Jahre.
Erdogan hatte einen heftigen Kampf mit der Armee im Jahre 2007 gewonnen, als er es durch ein Plebiszit durchsetzte, dass der AKP-Mitgründer und Politiker, Abdullah Gül, gegen den Wunsch der Armeeführung Staatschef wurde.
Neue Kadettenschulen
Die Armee hatte bisher ihren eigenen Nachwuchs unter ihrer eigenen Aufsicht in den Kadettenschulen erzogen, was wesentlich zur Erhaltung ihrer eigenen Ideologie und Sonderkultur beigetragen hatte. Dekrete der Erdogan-Notstandsregierung bestimmen nun, dass die Kadettenschulen aufgelöst und in Zukunft unter Aufsicht des Verteidigungsministers und des Erziehungsministeriums, also politischer Instanzen, neu organisiert und beaufsichtigt werden.
Die Hohe Armeeführung wurde durch ein anderes Dekret ebenfalls dem Verteidigungsministerium unterstellt. Bisher hatte sie eine selbstständige, machtvolle,Instanz gebildet. Die Gendarmerie, bisher unter Armeeführung und von abgeordneten Armeeoffizieren kommandiert, wurde dem Innenministerium zugeteilt. Die türkische Präsidialgarde wurde aufgelöst. Die detaillierten Bestimmungen, die zu diesen Umstellungen in den Streitkräften gehören, werden zur Zeit weiter präzisiert. Der Vorgang ist einmalig in der Geschichte der türkischen Streitkräfte.
Ausmerzung der angeblichen Gülen-Anhänger
Die Notstandsdekrete sichern auch sämtliche Massnahmen der gegenwärtigen „Säuberung“ im türkischen Justizwesen, im Unterrichtswesen, in Wirtschaftsorganismen, in der Polizei, den Geheimdiensten, im Informationswesen und in den Medien. Die vielen Zehntausend Gefangenen, die wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu der behaupteten Geheimorganisation Gülens festgesetzt wurden, müssen keinen Richtern vorgeführt werden, solange der Notstand bestehen bleibt. Die aus ihren Ämtern und Anstellungen entlassenen Staatsangestellten und Lehrer – ihre Zahl geht wohl in die Hunderttausende – haben keine gerichtliche Rekursmöglichkeit, solange der Notstand andauert. Die Gerichte selbst werden in dieser Zeit umorganisiert.
Das Parlament wird Vollzugsinstanz
Unter diesen Umständen wirkt die Grossdemonstration von Istanbul, die ins ganze Land übertragen wurde, zusammen mit der Diskussion um die Todesstrafe wie ein gewaltiges Ablenkungsmanöver, während die wichtigsten Machtpositionen von der Regierung und der Partei Erdogans okkupiert werden. In einem weiteren Schritt dürften die Parlamentarier aufgefordert werden, für die bereits getroffenen Massnahmen zu stimmen und sie dadurch endgültig zu legalisieren, sowie auch gleich die Verfassung so abzuändern, dass Erdogan seine heiss begehrte Stellung als „exekutiver Präsident der Türkei“, die er in der Praxis schon einnimmt, am Ende voll legalisiert hat.