Die türkischen Behörden haben mehrmals erklärt, sie wollten von nun an sowohl gegen den „Islamischen Staat“ (IS) wie auch gegen die kurdische PKK vorgehen. Beide seien terroristische Organisationen. Doch zunächst hat die türkische Luftwaffe sehr viel energischer gegen die Kurdenpartei losgeschlagen als gegen den IS.
Die Luftwaffe hat bis zum 1. August über 80 Angriffe gegen die PKK geflogen, einige an der türkischen Grenze und innerhalb der Türkei, andere auf kurdisch beherrschte Gebiete auf der syrischen Seite der Grenze. Dort kämpft die PKK Seite an Seite mit der syrischen Kurdenpartei PYD (für Demokratische Unionspartei).
Wurde der Bruder des Kurdenchefs verletzt?
Der weitaus grösste Teil der Luftangriffe fand jedoch auf PKK-Basen und Positionen im irakischen Kurdistan statt. Im dortigen Kandil-Gebirge, nah an der türkischen Grenze, haben die PKK-Kämpfer seit Jahr und Tag ihre Rückzugspositionen. Sie sind dort auch in früheren Jahren schon oft von der türkischen Luftwaffe und Artillerie bombardiert worden.
Nach Angaben der offiziellen türkischen Nachrichtenagentur sind bei den jetzigen Angriffen 270 PKK-Kämpfer ums Leben gekommen, 380 wurden verwundet. Die Armee und die zuständigen türkischen Ministerien weigern sich jedoch, diese hohe Zahl zu bestätigen oder zu dementieren. Die türkische Nachrichtenagentur berichtete auch, unter den Verletzten befinde sich der Bruder des kurdischen Parteichefs und Parlamentariers Selahattin Demirtaş. Er sei einer der PKK-Kämpfer gewesen.
Angriffe auch auf syrische Kurden
Masud Barzani, der Präsident der Kurdischen Regionalregierung des Iraks, hat die Angriffe verurteilt. Er hat aber auch die PKK-Kämpfer aufgefordert, sich von allen bewohnten Gebieten des irakischen Kurdenlandes fernzuhalten. Nach seinen Angaben sind bei den Angriffen acht Mitglieder von zwei irakischen Kurdenfamilien getötet worden.
Auch auf syrischer Seite sollen kurdische Zivilisten bei Angriffen getötet worden sein. Dies berichten Kurden in Syrien. Offiziell jedoch sind die syrischen Kurden nicht Ziel der türkischen Angriffe.
PKK-Selbstmordanschlag
Die PKK schlug zurück und griff Stellungen der türkischen Sicherheitskräfte an: PKK-Kämpfer legten Landminen in den Grenzgebieten, sprengten die Gas-Pipeline, die aus Iran in die Türkei führt, und verübten einen Selbstmordanschlag - den ersten in den jetzigen Auseinandersetzungen.
Ein Selbstmordattentäter zündete vor einem Quartier der türkischen Gendarmerie in der Agri-Provinz einen Sprengsatz. Dabei starb ein Soldat, 24 weitere wurden verwundet. Laut Zählung der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press sind seit Beginn der gegenwärtigen Auseinandersetzungen am 21. Juli 17 türkische Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Es ist zu erwarten, dass beide Seiten die Kämpfe fortführen werden.
Pro forma gegen den "Islamischen Staat"
Im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ geht die Türkei weniger energisch vor. Zwar sind in den ersten Tagen nach dem Anschlag in Suruç offenbar einige türkische Angriffe auf IS-Positionen an der syrischen Grenze verübt worden. Allerdings ohne grosse Wirkung, wie IS-Propagandisten erklärten. Der Anschlag in der türkischen Grenzstadt Suruç am 20. Juli, bei dem 32 Menschen starben, war dem IS zugeschrieben worden.
Jedenfalls kann von einer Vertreibung der IS-Kämpfer aus dem geplanten syrischen Pufferstreifen im Grenzgebiet vorläufig nicht die geringste Rede sein. Bei diesem Streifen soll es sich um einen 90 Kilometer langen Sektor zwischen den Kurdenkantonen Kobane und Afrin handeln. Er liegt direkt südlich der türkischen Grenze. Ziel ist es, die IS-Kämpfer aus diesem Streifen zu vertreiben.
Offenbar sind in Bezug auf diese Pufferzone noch nicht alle Details mit den Amerikanern geklärt. Wer soll wo eingreifen, wer soll die Zone absichern? Unklar ist auch, ob Gespräche zur Regelung solcher Fragen überhaupt schon begonnen haben.
Razzien gegen PKK und IS
....1300 Personen waren bis damals festgenommen worden,
Im Inneren der Türkei ergibt sich ein ähnliches Bild. Nach Angaben des türkischen Vizepräsidenten Bülent Arinç vom 30. Juli wurden bisher 1‘300 Personen festgenommen. Die Razzien dauern weiter an. Davon seien 847 Personen der Angehörigkeit oder Mitarbeit bei der PKK verdächtig gewesen; 137 der Verbindungen zum IS. Bisher, so der Vizepräsident, seien 142 Personen als PKK-freundlich angeklagt und 120 Personen dieser Gruppe freigelassen worden. Im Falle des IS waren die Angeklagten 31 und die Entlassenen 18.
Drama im türkischen Parlament
Im türkischen Parlament spielt sich ein politisches Drama ab. Die AKP-Regierungspartei zeigt sich entschlossen, gegen die Kurden vorzugehen – auch gegen deren legal gewählte Parlamentsabgeordnete. Selahattin Demirtaş, der Co-Präsident der legalen Kurdenpartei und langjährige Parlamentarier, soll nach dem Willen der Regierung wegen angeblicher Zusammenarbeit mit der PKK vor Gericht gestellt werden. Der Staatsanwalt hat die Anklage bereits formuliert. Doch die Klage ist nur dann wirksam, wenn die parlamentarische Immunität des Co-Präsidenten aufgehoben wird.
In der Parlamentsdebatte erklärten Demirtaş und alle 79 kurdische Parlamentarier, sie seien bereit, auf ihre Immunität zu verzichten. Dem schlossen sich die 132 Abgeordneten der grössten Oppositionspartei, CHP, an. Die Oppositionspolitiker forderten dann die übrigen Abgeordneten, darunter jene der Regierungspartei, auf, ebenfalls ihre Immunität aufzugeben. Nur so könnten Anschuldigungen gegen die Regierungspartei und ihre Parlamentarier untersucht werden.
Korruptionsskandal
Dabei geht es um einen alten, von der Regierung erstickten Korruptionsskandal, in den führende AKP-Leute und ihre Freunde verwickelt sind. Dieser Skandal hatte im Dezember 2013 seinen Anfang genommen und zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Recep Tayyip Erdoğan und dem Geistlichen Fethullah Gülen gesorgt.
Ob diese Schachzüge praktische Folgen haben werden oder bloss politische Propaganda bleiben, ist ungewiss. Die gegenwärtige Regierung ist nur eine Übergangsregierung, die über eine mögliche künftige Regierungskoalition verhandelt. Es ist nicht klar, wie weit das gegenwärtige Parlament, das aus den Wahlen vom 7. Juni hervorgegangen war, bereits voll und rechtskräftig handlungsfähig ist.
Die AKP schon auf Stimmenfang?
Am 24. August geht die Frist für die Bildung einer Regierungskoalition zu Ende. Nach diesem Termin hat Präsident Erdoğan die Möglichkeit, Neuwahlen auszuschreiben, die dann im kommenden Winter stattfinden würden. Dass eine Koalition noch zustande kommt, wird angesichts der wachsenden Spannungen in der Türkei immer weniger wahrscheinlich.
Wenn es Neuwahlen gibt, wird die führende, von Erdoğan dominierte AKP-Partei alles daran setzen, um die absolute Mehrheit wiederzuerlangen. Eine solche Mehrheit wäre Voraussetzung, dass Erdoğan die Verfassung zu seinen Gunsten ändern kann, und zwar so, dass sie ihm eine exekutive Präsidentschaft ermöglicht.
Die Kurden - die Spielverderber
Die Kurdenpartei von Selahattin Demirtaş hat bei den Wahlen am 7. Juni Erdoğan einen Strich durch die Rechnung gemacht. Deshalb hat der Präsident Interesse daran, die Kurdenpartei zu diskreditieren und zu entmachten, und zwar bevor es zu möglichen Neuwahlen kommt.
Anhänger aus seiner Partei haben ihm vorgeschlagen, die Partei schlicht zu verbieten. Doch er spricht sich gegen ein Verbot der legal bestehenden Partei aus, will jedoch Mitglieder der Partei, denen er Untaten vorwirft, zur Rechenschaft ziehen. Damit ist in erster Linie Demirtaş gemeint. Er war bei den letzten Wahlen als charismatische Persönlichkeit und damit als ernsthafter Gegenspieler Erdoğans in Erscheinung getreten.
Nationalisten gegen Kurden
In früheren Wahlen hatte viele Kurden für die AKP gestimmt. Sie hatten erwartet, die AKP steuere auf einen Frieden mit der PKK hin. Sie hofften auf Versöhnung im Namen des Islams. Erdoğan kämpft jetzt dafür, bei eventuellen Neuwahlen die Stimmen dieser Kurden zurückzugewinnen.
Er kann auch auf Stimmen aus den Rängen der türkischen Nationalisten zählen. Sie hatten bei den letzten Wahlen für die extrem nationalistische MHP gestimm. Die MHP gewann in den vergangenen Wahlen 80 Parlamentssitze, 28 mehr als in den vorangegangenen Wahlen. Die türkischen Nationalisten sind besondere Feinde der kurdischen Bewegung. Sie unterstellen den Kurden, sie wollten die Türkei zerstören. Erdoğans Friedensprozess mit den Kurden, der nun als gescheitert gelten muss, war den Leuten der MHP stets verhasst gewesen.
Gedulteter "Islamischer Staat"
Die Kurden sind weitgehend der Meinung, dass Erdoğan bald Neuwahlen ansetzen wird, um die absolute Mehrheit doch noch zu erreichen. Damit dies gelingt, müsse er zuvor die Kurdenbewegung schwächen.
Was jedoch den „Islamischen Staat“ angehe, so sagen viele Kurden, werde er in Wirklichkeit weiter von der türkischen Regierung geduldet. Der IS ist ein Feind der syrischen Kurden und der syrischen Regierung – deshalb sei er der türkischen Regierung nützlich.
Türkischer Geheimdienst unter Verdacht
Niemand hatte bisher die Verantwortung für den Anschlag von Suruç übernommen. Die meisten Opfer des Massakers waren Kurden oder Sympathisanten der Kurden. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu behaupten, der türkische Geheimdienst sei für das Attentat verantwortlich.
Im Anschluss an das Massaker von Suruç haben – laut türkischer Darstellung – PKK-Kämpfer zwei türkische Grenzsoldaten ermordet. Sie begründeten ihre Tat damit, dass sie an den Schuldigen von Suruç Rache nehmen wollten.
Diese zwei Morde erlaubten es der türkischen Regierung zu erklären, die PKK habe den Waffenstillstand mit der Türkei gebrochen. Deshalb müsse man mit aller Energie gegen „diese Terroristen“ vorgehen.