Die nach den vorläufigen Resultaten erlangten 51,3 Prozent, welche von den Verliererparteien in Frage gestellt werden, zeigen deutlicher als je, dass die Türkei in zwei praktisch gleiche Hälften gespalten ist. Das offizielle endgültige Resultat soll nach den Angaben der Wahlkommission in elf Tagen feststehen. Bis dahin sollen alle Einwände und Reklamationen bereinigt sein.
Die grösste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei, hat bereits Nachzählungen gefordert. Einer ihrer Abgeordneten sagte, in 37 Prozent der Urnen seien nach den Beobachtern der Opposition „Fälschungen“ festgestellt worden.
Die Polemik dreht sich in erster Linie um die Stempel auf den Wahlzetteln. Während die Abstimmung lief, erklärte die Wahlkommission, es sei nicht nötig, die Wahlzettel vor ihrer Einlegung in die Urnen abzustempeln. Bisher war dies in allen Wahlen die Praxis gewesen. Wie viele nicht gestempelte Wahlzettel sich in welchen Urnen befanden, ist zurzeit ungewiss. Die Opposition sagt: weit über eine Million. Der Vorsitzende der Wahlkommission, Sadi Guven, hat bereits erklärt, der Sieg des „Ja“ stehe fest. In allen bisherigen Wahlen in der Türkei haben die nachträglichen Beanstandungen keine Änderung der Resultate bewirkt.
Das Plebiszit war „unfair“
Doch selbst wenn sie mit ihren Anschuldigungen und Korrekturforderungen nicht durchdringt, kann und wird die Opposition darauf hinweisen, dass die Wahl keine faire Wahl war. Dies ist schwer abzustreiten.
Für alle Beteiligten und Beobachter war klar, dass der Staat, die Behörden und fast alle Medien Erdogan unterstützten und für ein „Ja“ warben. Propaganda für das „Ja“ war überall dominierend präsent. Propaganda für das „Nein“ musste man suchen. Der Staatschef selbst und seine gesamte Regierung warben in Massenveranstaltungen für das „Ja“, obwohl der Staatschef, Erdogan, sich nach der noch geltenden Verfassung hätte unparteiisch verhalten müssen.
Ablehnung in den grössten Städten
Trotzdem hat in den drei grössten Städten der Türkei das „Nein“ gesiegt. In Istanbul und Ankara knapp mit über 51 Prozent, in Izmir – von je her einer Hochburg des Kemalismus (das heisst der Ideologie Atürks) – mit 68,7 Prozent. Im Inneren Anatoliens und in den Schwarzmeerprovinzen hingegen siegte das „Ja“. Die Wahlbeteiligung in der ganzen Türkei war hoch, 85,8 Prozent.
Doch in den südöstlichen Provinzen, wo die Kurden die Mehrheit ausmachen, war sie deutlich niedriger, rund 60 Prozent. Die pro-kurdische Partei HDP erklärte, die geringere Wahlbeteiligung der Kurden zeige, dass es nach wie vor und trotz aller Repression eine kurdische Identität gebe, die sich von der türkischen unterscheide. Die wichtigsten Politiker und Abgeordneten der HDP sitzen im Gefängnis und ihre gewählten Bürgermeister, gegen dreitausend, wurden abgesetzt oder eingekerkert.
Von Neutralität keine Spur
Die Regeln der abgeänderten Verfassung sollen nach den gegenwärtig geltenden Bestimmungen für die Neuwahlen vom 3. November 2019 in Kraft treten, mit einer Ausnahme: die Bestimmung, nach welcher der Staatschef auch Vorsitzender seiner Partei sein muss, gilt ab sofort. Dies zeigt, dass Erdogan sich der Schwachstellen seiner bisherigen Position, seitdem er sich im August 2014 durch Volkswahl zum Staatschef wählen liess, sehr bewusst ist.
Nach der bisherigen und noch gegenwärtig gültigen Verfassung galt eigentlich, dass der Staatschef keiner Partei angehöre und sich politisch neutral verhalte. Doch Staatspräsident Erdogan blieb de facto der Chef seiner AKP. Ministerpräsident Benali Yildirim war es nur der Form nach. Im Wahlkampf um die Reform der Verfassung war Erdogan als der erste und wichtigste Vorkämpfer für das „Ja“ aufgetreten, von Neutralität konnte überhaupt nicht die Rede sein.
Abschaffung des Ministerpräsidenten
Durch die Verfassungsänderungen wird in künftigen Wahlen von 2019 der Vorsitzende jener Partei Präsident werden, welche die Mehrheit gewinnt, und die Wahlen werden alle fünf Jahre stattfinden. In der Türkei bestimmt der Vorsitzende einer jeden Partei, welche der Parteimitglieder für Wahlen kandidieren können. Er hat damit die Macht über seine Partei in der Hand.
Der Staatspräsident kann nach den neuen Bestimmungen dreimal auf fünf Jahre gewählt werden. Er erhält lebenslängliche Immunität gegen Anklagen. Er leitet die Exekutive und ernennt die Minister und Vizepräsidenten. Er kann auch neue Ministerien schaffen und deren Aktionsfeld bestimmen. Er bestimmt die Sicherheitspolitik der Türkei und leitet die Geheimdienste. Es wird keinen Ministerpräsidenten mehr geben.
Allmächtiger Präsident
Der Präsident kann Gesetze dekretieren. Er kann, wenn nötig, den Notstand erklären. Dieser kann bis zu sechs Monate dauern und muss vom Parlament bestätigt werden. Der Präsident ernennt die hohen Staatsbeamten, die Rektoren der Universitäten, die Botschafter. Er unterschreibt Staatsverträge. Er kann das Parlament auflösen. Er bestimmt das Budget und legt es dem Parlament vor. Er kann alle neuen Gesetze der Parlamentarier zurückweisen. Er wählt die Hälfte der Mitglieder des Rates für Richter und Staatsanwälte, der seinerseits die Richter und Staatsanwälte bestimmt und beaufsichtigt.
Der Präsident bestimmt auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichtes. Wenn 400 der neu 600 Parlamentarier (bisher waren es 550) schriftlich zustimmen, kann der Präsident vor dem Verfassungsgericht angeklagt werden. In den dem Präsidenten zustehenden Handlungsbereichen sind keinerlei Eingriffe anderer Stellen oder Behörden zulässig. Gegenwärtig soll es innerhalb der AKP Diskussionen darüber geben, ob die neuen Verfassungsregeln schon vor dem bisher festgesetzten Termin der Wahlen von November 2019 in Kraft treten sollen.
Versöhnen oder Schraube anziehen?
Was der knappe Sieg für das künftige Verhalten des Siegers, Erdogans, bedeuten wird, weiss man noch nicht. Zwei Reaktionen sind denkbar. Erdogan kann versuchen, die beiden Hälften des gespaltenen Landes nach Möglichkeit zu versöhnen und Brücken zwischen ihnen zu schlagen. Er hat einen kleinen verbalen Schritt in dieser Richtung unternommen, als er nach der Abstimmung erklärte, er danke allen Türken dafür, dass sie gewählt hätten, sowohl jenen, die „Ja“ wie auch denen, die „Nein“ sagten. Zuvor, im Wahlkampf, hatte er gesagt, er könne die „Ja“-Sager und die „Nein“-Sager verstehen, aber er stelle sie nicht in die „gleiche Kategorie“.
Es ist aber auch denkbar, dass Erdogan sich durch die sehr knappe Zustimmung gefährdet sieht und dass er alle Schrauben der gewaltigen Machtbefugnisse, die ihm nun zustehen, enger anzieht, um seine Machtfülle abzusichern.
Wiedereinführung der Todesstrafe?
Welche der beiden möglichen Haltungen auf die Dauer dominiert, wird wahrscheinlich von der Entwicklung in vielen kritischen Bereichen abhängen, welche die Türkei und Erdogan selbst in der nächsten Zukunft herausfordern. Darunter die Kurdenpolitik und die kriegerischen Aktionen der Türkei in Syrien; die aussenpolitische Orientierung zwischen Nato, Russland und den USA; die Fragen eines möglichen Bruchs mit der EU.
Erdogan hat erneut unterstrichen, dass er die Rückkehr zur Todesstrafe in der Türkei befürworte. Er erwähnte sogar die Möglichkeit eines weiteren Plebiszits darüber. Doch jeder Türke weiss, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe ein Ende der seit fast 60 Jahren laufenden Beitrittsbemühungen der Türkei zur EU bedeuten würden, die allerdings ohnehin wenig glaubwürdig geworden sind.
Wachsende Wirtschaftskrise
Bei den Beziehungen zur EU geht es nicht nur um den Beitritt, es geht auch um die bereits gegenwärtig bestehenden Handelsbeziehungen, die für beide Seiten von Vorteil sind. Viel wird von der weiteren Wirtschaftsentwicklung abhängen. Zurzeit steckt sie in einer wahrscheinlich erst beginnenden Krise. Die Händler beklagen sich, die Kunden fehlten, die Inflation sei zu hoch.
Je erfolgreicher die Türkei unter Erdogans Führung diese und andere grosse Herausforderungen zu meistern vermag, desto weniger wird sich der neue Machthaber gezwungen sehen, seine neuen Machtbefugnisse rücksichtslos einzusetzen und auszunützen – und umgekehrt.