Der türkische Staatspräsident hat am 14. August in der Schwarzmeerstadt Rize, einer Hochburg seiner AKP-Partei, eine Rede gehalten, welche die Türkei polarisiert. Erdoğan erklärte, die wiklichen Machtverhältnisse in der Türkei stimmten nicht mit der gegenwärtigen Verfassung überein. Deshalb müsse die Verfassung angepasst werden.
Wörtlich sagte er: "Es gibt einen Präsidenten, der de facto Macht hat, keine symbolische Macht. Dieser Präsident sollte seine Pflichten gegenüber der Nation direkt erfüllen, wenngleich innerhalb seiner Verantwortung. Ob man dies nun akzeptiert oder nicht: das administrative System der Türkei hat sich verändert. Was man jetzt tun sollte, ist, die Verfassung dieser wirklichen Lage im legalen Rahmen anzupassen."
Rechtlich gesehen ein Putsch
Der Vorsitzende der grössten Oppositionspartei, CHP, Kemal Kiliçdaroglu, reagierte empört. "Erdoğan gab in seiner Rede in Riza zu, dass er einen Staatsstreich durchgeführt hat", sagte er. Und weiter: "Erdoğan sagte: Ich habe diesen Coup durchgeführt. Jetzt ist es Zeit, die legale Basis der Wirklichkeit anzupassen. (…) Wer das sagt, ist die gleiche Person, die auf ihre Ehre und ihr Leben geschworen hat, sie werde sich gegenüber der Verfassung loyal erhalten".
Selahattin Demirtaş, der Ko-Präsident der Kurdenpartei DHP, erklärte, der Präsident habe ein Recht darauf, die Verfassung zu ändern, wenn das türkische Volk dem zustimme. Er schlug deshalb vor, dass – eventuell zusammen mit den nun wahrscheinlich bevorstehenden Wahlen – dem Volk die einfache Frage vorgelegt werde: "Wollt ihr die Verfassung im Sinne einer präsidialen Demokratie ändern, oder nicht?". Nach Meinungsumfragen ist anzunehmen, dass nur etwa 27 Prozent der türkischen Wähler, diese Frage mit "Ja!" beantworten würden.
Erdoğan sucht erneut eine parlamentarische Mehrheit
Doch die strategischen Pläne Erdoğans sehen anders aus. Es wird erwartet, dass er nach dem 23. August, wenn die Frist für Koalitionsverhandlungen abgelaufen ist, Neuwahlen ausschreiben wird. Die Koalitionsverhandlungen sind inzwischen gescheitert. Dies gab Ahmet Davutoğlu bekannt, der Vorsitzende der gegenwärtigen Übergangsregierung. Er hatte versucht, eine Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen.
Der Krieg gegen die PKK, den Erdoğan ausgelöst hat und weiterführt, dient ihm offensichtlich dazu, die Ausgangslage für diese kommenden Wahlen zu seinen Gunsten zu verändern. Er hofft, mit dieser Politik zusätzliche Stimmen im Lager der türkischen Nationalisten Stimmen zu gewinnen, die erbitterte Feinde der Kurdenbewegung sind. Erdoğan zählt wohl auch darauf, dass konservative Kurden ihm wieder die Stimme geben werden. Das konservative Kurdenlager fürchtet die PKK und ihre sozialistische Ideologie.
Gegen Demirtaş liegt eine gerichtliche Klage vor. Dem Kurdenführer wird vorgeworfen, mit der "terroristischen" PKK zusammenzuarbeiten. Die Klage könnte dazu führen, dass Demirtaş, der die Kurdenpartei im Juni zu ihrem unerwartet grossen Wahlerfolg geführt hat, noch vor den Wahlen ausgeschaltet wird.
Auf Kosten der türkischen Wirtschaft
Wirtschaftsfachleute in der Türkei und ausserhalb des Landes unterstreichen, dass die gegenwärtige Lage sich negativ auf die türkische Wirtschaft auswirkt. Die Unsicherheit im Land, der neu aufflammende Kurdenkrieg und ein wahrscheinlich neuer polarisierender Wahlkampf lasten schwer auf der Wirtschaft.
Schon jetzt ist wegen der internen und externen politischen Unsicherheiten die Lira, die türkische Landeswährung, gegenüber dem Dollar auf den tiefsten Wert seit zehn Jahren gefallen. Das Wirtschaftswachstum hat sich erheblich abgeschwächt; zudem droht eine Inflation.
Doch all dies wird Erdoğan nicht von seinen Plänen abbringen. Er ist offensichtlich gewillt, alles daran zu setzen, dass seine Partei in den nun bevorstehenden Wahlen die absolute Mehrheit erringt. Eine solche würde ihm erlauben, via Parlament eine Verfassungsänderung durchzubringen, die ihm – auch verfassungsmässig – jene Macht einräumt, die er de facto zum Teil bereits an sich gerissen hat.