Vor Erdogan bildeten die türkischen Militärs das Rückgrat des Staates. Sie sahen sich als die politischen Erben Atatürks und beriefen sich darauf, dass dieser selbst sie mit der Aufgabe betraut hatte, die «Laizität» der türkischen Republik nach seinem Tode aufrecht zu erhalten.
Unter «Laizität» versteht man in der Türkei die strenge Trennung von Staat und Religion nach dem Vorbild Frankreichs, jedoch auch und gleichzeitig die Unterordnung der Religion des Islams, soweit sie sich in der Öffentlichkeit manifestiert, unter die Kontrolle des Staates.
Die «Laizität», wie die Türkei sie versteht, soll in erster Linie verhindern, dass die islamische Religion eine politische Rolle in der türkischen Republik übernimmt. Autorität über alle Belange des Islams in der Türkei übt seit Atatürk und bis heute das Amt für Religionswesen aus, das dem Ministerpräsidenten untersteht und von ihm kontrolliert wird. Die Moscheen und ihr Betrieb werden von diesem Amt aus mit Steuergeldern finanziert.
«Mehr Islam» als politische Forderung
Erdogan begann seine politische Laufbahn in der Partei Necmettin Erbakans, eines Politikers, der für mehr öffentliche Präsenz des Islams in der Türkei eintrat. Dies war in weiten Kreisen des türkischen Volkes populär. Erbakan besass deshalb eine Anhängerschaft, die regelmässig für seine Partei stimmte.
Doch die Parteien Erbakans wurden mehrmals von den «laizistischen» Politikern und den Armeeoffizieren, die mit ihnen zusammenwirkten, verboten. Grund: Sie wurden als «religiöse» Parteien eingestuft. Erbakan sah sich deshalb mehrmals gezwungen, seine Partei aufzulösen und später unter neuem Namen wieder aufzuziehen. Sie hiess zuerst «Nationale Ordnungspartei» (1970-71), dann «Nationale Rettungspartei» (1972-81), dann «Wohlfahrtspartei» (1979-98), dann «Tugend-Partei» (1998-2001), schliesslich «Glückseligkeitspartei» (2003-2011). Erbakan war zwischen 1996 und 1997 kurze Zeit Ministerpräsident, dann wurde seine Partei auf Betreiben der Militärs als unkonstitutionell erklärt.
«Minarette als Spiesse»
Recep Tayyip Erdogan war als junger Politiker Mitglied in zwei der Erbakan-Parteien. Er wurde mit der Hilfe der damaligen Wohlfahrtspartei zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Dieses Amt übte er mit grossem Erfolg von 1994 bis 1998 aus. Auf Betreiben seiner «laizistischen» Feinde, unter ihnen prominent die Armeeoffiziere, wurde ihm jedoch wegen «religiöser Intoleranz» ein Politikverbot und eine Haftstrafe von zehn Monaten auferlegt. Vier Monate verbrachte er im Gefängnis. Sein Vergehen war, dass er in einer Volksrede ein nationalistisches Gedicht aus der spät-osmanischen Zeit zitiert hatte, in dem es heisst: «Unsere Moscheen werden uns als Sammelplätze und unsere Minarette als Spiesse dienen!»
2001 trennte Erdogan sich von Erbakan und zog seine eigene Partei auf, die AKP, übersetzt «Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei». Im Gegensatz zu Erbakan befürwortete sie den Eintritt der Türkei in die EU. Sie bezeichnete sich auch nicht als islamisch sondern als demokratisch, betonte jedoch, dass zwischen Islam und Demokratie keine Unvereinbarkeit bestehe. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung mehr öffentlich auftretenden und wirkenden Islam wünsche, so die Grundhaltung der Partei, sei dem stattzugeben, obgleich der Staat verfassungsgemäss eine «laizistische» Republik bleibe.
Gegnerschaft aus Armeekreisen
Soviel «islamische» Zielsetzung genügte, um die Feindschaft der führenden Armeeoffiziere und ihrer politischen Anhängerschaft auf die neue Partei anzufachen. Doch es war auch – zusammen mit dem guten Namen, den Erdogan sich als Bürgermeister von Istanbul geschaffen hatte – genug, um der Partei 2001 einen grossen Wahlsieg zu verschaffen. Sie hat seither nie mehr ihre Mehrheitsposition in der Türkei verloren. Das Urteil gegen Erdogan wurde aufgehoben, und er konnte ab 2003 als Chef der Mehrheitspartei als Ministerpräsident amten.
Es war nicht alleine die pro-islamische Haltung der AKP, sondern auch der bedeutende wirtschaftliche Erfolg der Türkei unter AKP-Führung, welcher die Position Erdogans untermauerte. Doch der militärischen Führung blieb er ein Dorn im Auge. Die Armeekommandanten und Generäle wirkten zusammen mit der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei, zu Atatürks Zeiten die regierende Staatspartei), um die Partei Erdogans wegen ihrer islamischen Färbung als verfassungswidrig zu erklären. Der AKP wurde vorgeworfen, sie verstosse gegen das Verfassungsprinzip des «Laizismus».
Es kam zu gewaltigen Demonstrationen gegen Erdogan und seine Partei. Izmir ist bis heute die Stadt, in welcher der Laizismus und die Grundvorstellungen Atatürks die meisten Anhänger aufweisen. Gegen die AKP wurde das Verfassungsgericht angerufen, und die Partei wurde nur knapp, mit einer Richterstimme Mehrheit, als konstitutionsgemäss anerkannt.
Machtfragen als Kern des Ringens
Ging es bei der Auseinandersetzung mit den Militärs der Form nach um die Frage der «Laizität» des Staates, so drehte sie sich in der Substanz stets auch um Machtfragen. Vor Erdogan und seinen Wahlsiegen hatten die Oberhäupter der türkischen Waffengattungen unter dem Vorsitz des Generalstabschefs mehr Macht ausgeübt als die aus Wahlen und Parlamentsmehrheiten hervorgegangenen Ministerpräsidenten. Dies hatte sich mehrfach erwiesen in den Armeeputschen von 1960, 1971, 1980, die jeweils die Verfassungen aushebelten und neue Verfassungen schrieben. Ganz allgemein war es üblich, dass die Armeeoberhäupter ihren Willen in Bezug auf politische Fragen nur zu veröffentlichen brauchten, um ihn durchzusetzen.
Erdogan war eisern gewillt, die Armeeoberhäupter seiner Befehlsgewalt als Ministerpräsident zu unterstellen. Er erreichte dies durch zwei Grossprozesse gegen die Generalität, in denen dieser Verschwörung zum Umsturz des Staates vorgeworfen wurde.
Der erste dieser Prozesse, unter der Bezeichnung «Ergenekon» begann 2003. Die Anklage gegen Hunderte von Offizieren lautete, sie hätten eine Geheimgesellschaft dieses Namens gegründet, um die legale Ordnung zu stürzen und Erdogan abzusetzen. Während dieser Prozess noch lief, kam es 2010 zu einer zweiten Grossanklage unter dem Titel «Vorschlaghammer», in der behauptet wurde, die obersten Generäle der türkischen Streitkräfte hätten einen Plan dieses Namens geschmiedet, der ebenfalls auf den Sturz der legalen Regierung abgezielt habe.
Die Beweislage in diesem zweiten Prozess war schwach. Der angebliche Plan war zuerst einer Zeitung zugespielt worden und wurde von dieser an das Gericht weitergereicht. Es gab viele Ungereimtheiten in diesem Dokument, die darauf hinwiesen, dass es entweder manpuliert oder völlig gefälscht war. Dennoch gab das zuständige Gericht in beiden Fällen der Anklage recht. Es fällte Urteile für «Ergenekon» (2013) und «Vorschlaghammer» (2012) mit Gefängnisstrafen für Hunderte von Offizieren, darunter auch ehemalige Armeeoberhäupter. Viele der Verurteilten hatten zuvor während Jahren in Untersuchungshaft gesessen.
Mit Gülen gegen die Offiziere
Bei der Vorbereitung der Prozessse und der Aufdeckung und Verurteilung der angeblichen Verschwörungen hatten Anhänger der religiösen Bewegung, die der Geistliche Fethullah Gülen von seinem Sitz in den USA aus leitet, eine wichtige Rolle gespielt. Die Gülen-Bewegung war damals ein politischer Verbündeter Erdogans. Ihre Anhänger hatten gewichtige Positionen in der Wirtschaft, den Medien, in der Führung der Polizeikräfte und unter den Richtern inne.
Die Feinde Gülens erklärten, seine Anhänger hätten die Hexenjagd gegen die Offiziere ausgelöst und angeführt, und sie hätten die angeblich kompromittierenden Dokumente gefälscht. Doch Journalisten, die diese These vertraten, landeten damals im Gefängnis.
Das politische Ergebnis der Prozesse war jedenfalls, dass Erdogan den türkischen Armeeführern den Meister zeigte. Er war es nun, der ihnen Befehle gab. Die jährlichen Sitzungen der Armeechefs im Obersten Militärrat waren zuvor unter Vorsitz des Generalstabschefs durchgeführt worden. Der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister durften als Teilnehmer mit dabei sein. Nach dem Beginn der Prozesse war es Erdogan, der den Vorsitz ausübte, die neuen Waffenchefs und der neue Generalstabschef traten unter seiner Leitung zusammen.
Zusammenstoss mit der Gülenbewegung
Im Jahr 2013 stiess Erdogan mit den Anhängern Gülens zusammen. Polizeikräfte hatten eine Korruptionsaffäre aufgedeckt und publik gemacht, in die Minister der Erdogan-Regierung involviert waren. Sie mussten ihren Rücktritt einreichen. Es gab dabei auch Anschuldigungen gegen den Sohn Erdogans und gegen Erdogan selbst. Erdogan wies alles zurück und erklärte, Gülens Anhänger gingen mit einer Verschwörung darauf aus, den türkischen Staat zu erschüttern.
Schon vor dieser Affäre war es zu Reibungen zwischen dem Ministerpräsidenten und der Gülenbewegung gekommen. Die AKP hatte ein Gesetz erlassen, durch das die zahlreichen Schulen der Bewegung – eines ihrer wichtigsten Sozialwerke und Einflussinstrumente – in ihrer Zulassung eingeschränkt wurden. Deshalb war Erdogans Vorwurf, die Gülen-Bewegung habe ihn und seine Entourage aus Rache angeschwärzt, nicht ganz unglaubwürdig.
In der Folge kam es zu einer systematischen Säuberung bei Polizei und Gerichtsbarkeit. Hunderte von Polizeifunktionären, denen Sympathie oder heimliche Zugehörigkeit zu der Bewegung Gülens nachgesagt wurde (die Zugehörigkeit wird geheim gehalten) wurden versetzt oder entlassen. Über die Richter hatte der Staat eigentlich kein Aufsichtsrecht. Doch mit neuen Gesetzen wurden die Richter unter engere Aufsicht des Justizministers gestellt, der ein Exponent der AKP war.
Offiziersprozesse aufgehoben
Im Verlauf der Massnahmen gegen die Gülenbewegung wurden im Jahr 2016 die beiden Prozesse gegen die Armeeoffiziere annulliert. Die Verurteilungen wurden aufgehoben, die Offiziere nach langjähriger Haft entlassen. Die Prozesse sollen «in Zukunft» revidiert werden. Andeutungsweise hiess es hierzu, es sei die verschwörerische Tätigkeit der Gülen-Anhänger gewesen, die zur Anklage und Verurteilung der Offiziere und Generäle geführt habe.
Im gleichen Jahr 2016 gingen die Behörden auch gegen zahlreiche grosse Wirtschaftsunternehmen und einige der wichtigsten Tageszeitungen der Türkei vor, die nun ebenfalls als Instrumente von Gülens Verschwörung eingestuft wurden. Der Umstand, dass die Bewegung während entscheidender Jahre ein enger Verbündeter und Mitstreiter der AKP und Erdogans war, auch gerade im Kampf gegen die Vormacht der Offiziere, wird heute von offizieller Seite stillschweigend übergangen, obgleich er natürlich der türkischen Öffentlichkeit durchaus bekannt sein dürfte.
Putschversuch: Rückenwind für Erdogan
Im Gefolge des offenbar fehlgeschlagenen Putschs von Freitag Nacht wird sich die Hexenjagd gegen die Gülenbewegung und gegen die Richter, die ihr angeblich nahestehen, weiter verschärfen. Präsident Erdogan hat angedeutet, «Parallelstrukturen» stünden hinter dem Coup. Mit diesem Ausdruck hat er auch schon früher die Gülenbewegung bezeichnet. Er wirft ihr vor, einen «Parallelstaat» gebildet zu haben.
Die offiziöse Agentur Anadolu meldet, nach dem Putsch seien 2’745 Richter im ganzen Lande «entlassen worden». Gegen Mitglieder des Verfassungsgerichts lägen 140 Haftbefehle vor. Das Verfassungsgericht hat in den letzten Wochen mehrere Gesetze der AKP als nicht verfassungsgemäss zurückgewiesen. Dies waren stets Gesetze gewesen, die darauf ausgingen, die Macht der Mehrheitspartei und ihres Vorsitzenden, Präsident Erdogan, noch weiter auszudehnen.
Der türkische Ministerpräsident, Binali Yldirim, ein treuer Gefolgsmann Erdogans, hat nach dem Putsch direkt gegen Gülen losgeschlagen. Er hat erklärt, Gülen sei ein Feind der Türkei. Ein Land, das Gülen beistehe, könne nicht als ein Freund der Türkei gelten und befinde sich im Krieg mit der Türkei. – Gülen lebt in den USA. Er hat den Putschversuch sofort verurteilt und erklärt, er sei gegen alle Militärputsche.
Aus dem amerikanischen Aussenamt verlautet, es sei keinerlei Auslieferungsgesuch in Bezug auf Gülen in den USA eingereicht worden. Doch aus der amerikanisch-türkischen Luftbasis von Incirlik wird gemeldet, der Zugang zu der Basis sei gesperrt und die Elektrizitätsversorgung gekappt. Incirilik hat in den vergangenen Monaten als Basis für die amerikanischen Kampfflugzeuge gedient, die den IS in Syrien bekämpfen.