Wir kurven durch die Dorfgassen und über die Feldwege, messen Distanzen, notieren Fixpunkte, natürlich ohne Triangulieren, sondern über den Daumen gepeilt. So lerne ich zumindest mein Dorf kennen. In den zwei Jahren, seit wir uns hier niedergelassen haben, war es mehr ein olfaktorischer Erdkundekurs, den ich – buchstäblich – durchlief.
Geführt von den beiden Hunden folgen meine Spazierwege meist ihren Nasen. Was für ein Paradies von Düften sich da vor Chichoo und Babloo ausbreitet, vor allem wenn ich an die Spardiät ihrer Schweizer Schnüffelgenossen denke! Der Kot von Kühen, Ochsen, Ziegen, Pferden, Hunden, Katzen, Menschen, Hühnern; die sterblichen Überreste, die überall herumliegen – Federn und Knöchelchen, Schalen und Schuppen, Haariges und Innereien. Und natürlich als besonders aromatische Leckerbissen die Abfälle links und rechts der Strasse, von Früchten und Gemüse, frisch oder, noch besser, in verschiedenen Stadien der Fäulnis. Es ist jeden Morgen eine Schnupperreise, unterbrochen von den bangen Augenblicken, wenn sich die Leinen spannen und ein Ochsenpaar vorbeitrampelt, im Gebüsch ein Huhn hochflattert oder, wie letzthin, ein Mungo über die Strasse huscht.
Improvisierter Katasterplan
Jadavs‘ und mein Kartografieren hat einen engen Zusammenhang mit diesen Düften. Denn Awas hat nicht nur keinen verlässlichen Dorfplan, es hat auch keine Kehrichtabfuhr. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn es hat ja auch keine Trinkwasserversorgung, das Abwasser läuft in Sickergruben ab, um Strom- und Telefonleitungen muss man sich selber kümmern. Die Zufahrt zu unserem Neubau mussten wir als Dorfweg eintragen lassen – auf einem Katasterplan, der hoffentlich nie als juristisches Beweisstück dienen muss.
Einige von uns Bewohnern und ein paar Wochenendaufenthalter aus Bombay haben sich nun zusammengetan, um eine Kehrichtentsorgung zu schaffen. Ein Abfuhrwagen muss beschafft und hergerichtet werden, ein Routenplan erstellt, Ladestationen festgelegt, die End-Entsorgung organisiert werden. Dafür braucht es eine Karte, auf der die ungefähren Fahrtzeiten eingetragen werden, so dass die Benzinkosten einigermassen budgetiert werden können, sowie die Rundenzeiten und damit die Häufigkeit, mit der der ‚Gantha Garhi‘ vorbeikommt - über der Fahrerkabine wird eine Glocke, ‚Gantha‘, installiert, mit der sich der Abfuhrwagen ankündigt.
Ineffiziente Behörden
Das ist doch Sache der Gemeinde, dachte auch ich am Anfang. Doch Awas ist ein armer Panchayat. Die einzige Abgabe, die die Gemeinde erheben kann, ist eine Haussteuer, die gerade genügt, um das Gemeindebüro offen zu halten. Für die anderen Infrastrukturaufgaben sind die höheren Amtsstellen von Subbezirk, Bezirk und Staat Maharashtra zuständig. Für diese liegt Abfallentsorgung tief unten auf der Prioritätenliste. Wie könnte es anders sein, wenn dies auch für die unmittelbar Betroffenen so ist.
Die meisten Bewohner eines indischen Dorfs sehen den Abfall gar nicht. Und wenn sie ihn von jenseits der Hausmauer riechen – nun, ein würziger Mistgeruch hat noch nie geschadet. Jadav und ich ernteten zuerst Misstrauen mit unseren Stoppuhren und Notizblöcken. Es löste sich in mitleidiges Lächeln auf, als sie von unserem Plan hörten, uns mit Abfallentsorgung zu besudeln. Dabei ist Awas eine fortschrittliche Gemeinde. Der Gemeinderat hat öffentliche Toiletten eingerichtet, und im Gegensatz zum Nachbardorf Sasawne sieht man am Morgen keine Leute am Strand, die in Fünfzigmeter-Distanz zueinander im Sand kauern und der Dinge harren, die da kommen.
Er hat entlang der Uferpromenade einen Steinwall gegen die Erosion durch höhere Fluten errichtet, und dahinter 50‘000 Casuarina-Bäume gepflanzt, um den sandigen Boden zu festigen. Und er hat begonnen, im Hügelgebiet landeinwärts einen kleinen Damm zu bauen, und eine Trinkwasserleitung für alle 500 Haushalte und die rund vierzig Wochenend-Bungalows zu legen – Alles Aufgaben für die eigentlich übergeordnete Staatsstellen, wenn sie nicht so ineffizient wären.
Überwältigende Wahlsiege
Das Geld dafür erhält der Awas-Panchayat direkt aus der Hauptstadt. Der Staat ist angesichts des Versickerns seiner Entwicklungsgelder dazu übergegangen, solche Initiativen von Gemeinden – öffentliche Toiletten, Wasserleitungen, Bäume pflanzen – zu tolerieren. Falls erfolgreich, werden sie gar direkt, ohne den Umweg über Bezirk und Subbezirk, mit Prämien und Kostenzuschüssen belohnt. Die Wasserleitung wird zu 90 Prozent vergütet werden, für die anderen zwei Projekte erhielt Awas eine Prämie von je 200‘000 Rupien. Und sie erhielt noch einen weiteren Preis: 200‘000 für ‚Friedfertigkeit‘.
Awas ist eine Gemeinde, die nicht zerstritten ist, eine Seltenheit, die belohnt werden muss. Keine vorbildliche, aber doch eine funktionierende Dorfdemokratie, wird man mit Recht denken. Und dennoch sind es die nicht-demokratischen Eigenheiten, die diesen Erfolg gebracht haben. Seit Generationen wird das Amt des Dorfpräsidenten vom Rane-Clan beherrscht. Heute teilen sich die zwei Brüder Abhijit und Ranjit Rane in das Amt.
Dies ist rechtlich natürlich nicht möglich, und so wird bei Wahlen immer noch der Name des verstorbenen Vaters als ‚Sarpanch‘ geführt. Und da abwechslungsweise eine Frau Dorfpräsidentin werden muss, wird elegant die (noch lebende) Mutter portiert. Es ist den beiden Brüdern zu verdanken, das Füllhorn des Staats entdeckt zu haben. Sie entwickeln ständig neue Projekte, die dem Dorf zugutekommen, und garantieren Vater- und Mutter-selig jeweils überwältigende Wahlsiege.
Demokratie und uralte Formen
Es stört nur wenige, dass die Ranes bei all diesen Aktivitäten gut wegkommen. Die Familie ist inzwischen die grösste private Landbesitzerin in Awas, und wer ein Stück Land verkauft, tut es oft an den Rane-Clan, auch wenn Jeder weiss, dass diese es mit Gewinn weiterverschachern. Beim Trinkwasserprojekt wie beim Dammbau kommen Lastwagen von Rane zum Einsatz, und viele Bauziegel schmückt das Logo R&R. Nur Nörgler aus Bombay runzeln die Stirn. Denn wissen sie, dass ein Rane-Kettenfahrzeug zur Stelle ist, wenn ein Dorfweg im Monsun im Morast versinkt, ohne dass Rechnung gestellt wird? Und hat nicht Abhijit kürzlich einen neuen Sai Baba-Tempel finanziert? Und einen Kinderspielpatz?
Demokratie lebt hier immer noch hautnah neben uralten Formen der Machtausübung. Man kann es Klientelwesen nennen, oder ein Feudalrelikt: Eine Elite – ein Clan, eine Firma, ein Ministeramt – legitimiert den ungesetzlichen Machtanspruch, indem sie den Schutzbefohlenen Protektion und Dienstleistungen garantiert. Wenn ich an die Nachbargemeinde Sasawne denke, wo sich die Fischer und die Bauern ständig in den Haaren liegen, der Gemeinderat blockiert ist, Sarpanch-Wahlen von Faustkämpfen begleitet sind, dann bin ich froh, in der gewählten Dorfdiktatur von Awas zu leben. Und sei’s drum, dass dies auch mir Sozialkosten bringt. ‚Bungalowwallahs‘ sind nun einmal Elite, und es ist selbstverständlich, dass wir den Kehrichtwagen mitbezahlen. Und gratis Dorfkarten zeichnen.